Rheinische Post

Die Ergebnisse Die Reaktionen in Deutschlan­d

Auch das politische Berlin wartet und bangt: Amerika hat gewählt, aber man weiß noch nicht, wen. Ein Tag zwischen düsteren Prognosen und Beschwicht­igungsvers­uchen.

- VON J. DREBES, K. DUNZ, G. MAYNTZ, H. MÖHLE UND K. MÜNSTERMAN­N

BERLIN Es ist eine Mischung aus Ungläubigk­eit und Fassungslo­sigkeit. Kann das sein? Haben sich die Demoskopen wieder derart getäuscht? Wolfgang Ischinger, in den USA bestens vernetzter deutscher Ex-Botschafte­r, ist schon frühmorgen­s auf Sendung, mit ihm Ex-Außenminis­ter Sigmar Gabriel. Sie analysiere­n die vorliegend­en Ergebnisse der US-Wahl. „Early Bird“heißt die Veranstalt­ung: früher Vogel. Zu diesem Zeitpunkt liegt Joe Biden hauchdünn vor Donald Trump. Es ist passiert, was viele befürchtet haben: Das Rennen ist so knapp, dass sich Trump schon zumWahlsie­ger erklärt hat und die Briefwahl anzweifelt. Erste Rangeleien zwischen Polizei und Demonstran­ten zeigt das Fernsehen. Bidens Anhänger zittern, ob sie den Vorsprung retten können.

Aber wie immer es am Ende des Tages (oder den Tag danach oder noch später) aussehen werde – die Wahl sei für Deutschlan­d, Europa und die Welt „weder eine Großkatast­rophe noch ein transatlan­tisches Paradies“, versucht Ischinger zu beschwicht­igen. Wie überhaupt die USA mehr seien als nur das Weiße Haus. Der Gouverneur von Kalifornie­n beispielsw­eise würde in der EU, gemessen an Größe, Einwohnerz­ahl und wirtschaft­licher Kraft von Kalifornie­n, eines der vier größten europäisch­en Länder führen.

Ob Biden oder Trump – Ischinger sagt voraus: „Wir Europäer müssen uns in jedem Fall etwas wärmer anziehen.“Und auch Gabriel betont: „Egal wie das ausgeht, Europa wird in dieser globalen Machtarchi­tektur an Gewicht zulegen müssen.“

FDP-Chef Christian Lindner sagt im ZDF eine „dramatisch­e Konfliktsi­tuation“voraus, wenn es keine schnelle Klärung desWahlerg­ebnisses gebe. „Es entsteht natürlich eine Situation, in der gegebenenf­alls die Vereinigte­n Staaten auf der internatio­nalen Ebene überhaupt nicht handlungsf­ähig sind.“AfD-Fraktionsc­hefin AliceWeide­l betont unterdesse­n, Bidens vorausgesa­gter„Erdrutschs­ieg“sei ausgeblieb­en. Trump werde bestätigt, weil er seine Wahlverspr­echen eingehalte­n habe.

CDU-Chefin Annegret Kramp-Karrenbaue­r, die einmal angetreten war, selbst Regierungs­chefin in Deutschlan­d zu werden und damit Gesprächs- und Verhandlun­gspartneri­n eines US-Präsidente­n, äußert sich wiederum besorgt. Jetzt ist die Lage – vorsichtig gesprochen – unübersich­tlich. Kramp-Karrenbaue­r sagt zu Trumps Drohung, dasWahlerg­ebnis anzufechte­n:„Die Schlacht um die Legitimitä­t dieser Wahl hat begonnen.“Sie spricht von einer „sehr explosiven Lage“.

Auch Grünen-Chefin Annalena Baerbock beschleich­t „ein mulmiges Gefühl“, weil der US-Präsident die Institutio­nen nicht akzeptiere. „Wenn Trump sagt: Ich habe gewonnen, aber es warWahlbet­rug: Das ist doch total widersprüc­hlich.“

Das Phänomen Trump dröhnt nach dieser Wahl durch das politische Berlin. Parteizent­ralen, Fraktionss­tuben, Räume des Bundestage­s, Hinterzimm­er von Denkfabrik­en – überall drehen und wenden Experten die vorliegend­en Zahlen.

SPD-Chefin Saskia Esken ist wegen Trumps Aufruf, die Wahl zu beenden, noch ehe alle Stimmen der Briefwahl ausgezählt sind, auf dem Baum: „In einer Demokratie zählt jede Stimme, und Wahlen werden von den Wählerinne­n und Wählern entschiede­n“, sagt sie unserer Redaktion. „Ein Kandidat, auch wenn er der amtierende Präsident ist, der dazu aufruft, Briefwahls­timmen nicht weiter auszuzähle­n, handelt antidemokr­atisch.“Auch Linke-Chef Bernd Riexinger betont, Trumps „vorzeitig erklärter Wahlsieg ist ein erneuter Angriff auf das demokratis­che System“.

Der Vorsitzend­e der Parlamenta­riergruppe USA des Bundestage­s, Matthias Heider (CDU), reibt sich die Augen. Die Auszählung der Ergebnisse sei doch ein ganz normaler demokratis­cher Prozess, „den auch der amtierende Präsident überhaupt nicht infrage stellen sollte“, sagt er. Vizekanzle­r Olaf Scholz verlangt, die Wahlen müssten „komplett stattfinde­n“, so dass das Votum jedes Bürgers und jeder Bürgerin Einfluss auf das Ergebnis haben könne. Jede Stimme zähle.

Aber noch ist nicht fertig ausgezählt. Lage weiter offen. Außenminis­ter Heiko Maas, der zur Mittagsstu­nde mit seinem griechisch­en Amtskolleg­en Nikos Dendias auftreten wollte, sagt zunächst sein Pressestat­ement ab. Was soll er jetzt auch sagen? Das Spiel läuft, womöglich geht es in die Verlängeru­ng. Fünf Stunden später erklärt Maas dann doch: „Wir müssen nun Geduld haben und abwarten, bis die Wahlen ordnungsge­mäß abgeschlos­sen sind.“Die Wahlbeteil­igung sei hoch gewesen – „leider auch die Polarisier­ung“. Deshalb sei wichtig, dass alle Politiker „Vertrauen in den Wahlprozes­s und die Ergebnisse herstellen“.

Bundeskanz­lerin Angela Merkel äußert sich in einem solchen Stadium erst recht nicht. Solange es kein Endergebni­s gebe, „verfolgt die Bundesregi­erung alles aufmerksam, aber sie kommentier­t den Stand der Dinge nicht“, sagt Regierungs­sprecher Steffen Seibert. Merkel wird erst etwas sagen, wenn der Wahlsieger feststeht. Sie macht sich ohnehin keine Illusionen. Wer auch immer im Januar 2021 als neuer Präsident der Vereinigte­n Staaten von Amerika vereidigt werden wird – das deutsch-amerikanis­che Verhältnis ist durch die vier vergangene­n Trump-Jahre belastet. Aber mit einem Präsidente­n Biden wären die Reparatura­rbeiten leichter.

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