Benediktinerpater Anselm Grün sieht im Zuhausebleiben auch eine Chance zur Selbstfindung.
Viele verbringen wieder die meiste Zeit daheim. Aus dieser Zeit kann man Gewinn ziehen, erklärt der Benediktinerpater Anselm Grün.
DÜSSELDORF Wir sind wieder einmal nur noch daheim. Freunde werden nicht eingeladen, Familie findet überwiegend telefonisch statt, das Gänseessen ist abgesagt. Es gibt Schlimmeres; aber wenn das ungewohnte Leben plötzlich Alltag sein soll, der Reiz des Neuen verflogen ist, aus Muße Langeweile und aus Ruhe Unruhe wird, sind Strategien gefragt. Am besten von jenen, die eine Art Quarantäne gewohnt sind, wie Mönche im Kloster.
Einer hat sich darüber Gedanken gemacht: Anselm Grün ist Benediktinerpater, Theologe, Betriebswirt und der erfolgreichste deutschsprachige Autor religiöser Bücher. Mehr als 400 Titel sind von ihm erschienen, in 30 Sprachen übersetzt worden – mit einer Gesamtauflage von mehr als 15 Millionen Exemplaren.
Ist mit unserem Rückzug in Corona-Zeiten auch unser Leben zum Klosterleben geworden? Ein bisschen schon – mit einem gewaltigen Unterschied: Der Mönch hat seinen Weg selbst gewählt, wir aber fühlen uns fremdbestimmt. „Das ärgert einen natürlich“, sagt Pater Anselm Grün. Darum gilt es nach seinen Worten, die richtigen Fragen zu stellen: „Wie reagiere ich darauf? Etwa als Opfer dieser blöden Vorschriften? Oder reagiere ich kreativ und aktiv darauf und arrangiere mich mit der neuen Realität, indem ich meine Zeit strukturiere? Wenn ich in der Opferrolle verbleibe, werde ich immer verbitterter und schwäche mich am Ende selbst.“
Das Klosterleben sei ein guter Vergleich mit den Erfahrungen vieler in dieser Zeit, sagt der 75-Jährige. Und möglicherweise auch lehrreich: „Stabil bei sich zu bleiben und sich sozusagen selber auszuhalten, war für den heiligen Benedikt ganz wesentlich. Es ist im Grunde auch eine wichtige Aufgabe für die Menschen heute. Ein Problem des modernen Menschen ist nämlich, dass keiner mehr alleine in seinem Zimmer bleiben kann“, so Grün.
Hört sich leicht an, ist auf Dauer aber ein Problem. Zwar kein gesellschaftliches oder kommunikatives, aber ein persönliches. Wie das lösbar sein könnte? „Indem ich aufhöre, mich ständig zu bewerten, und mich stattdessen der eigenen Wahrheit stelle“, so Grün. Die Mönche sagten, dass man nicht verantwortlich für die Emotionen sei, die in einem auftauchen. Verantwortung trage man dafür, wie man damit umgeht. Eine „echte Reifungsaufgabe“nennt der Benediktiner das: „Wenn wir nicht mehr fliehen und uns in 1000 Aktivitäten stürzen können, kommt einfach irgendwann die eigene Wahrheit hoch. Wenn man sich selbst mit Neugierde und in Ruhe anschaut, wächst die Lust, sich besser kennenzulernen.“
Wir müssen wieder lernen, mit überschaubarem Lebensraum umzugehen und Beschränkung nicht als Isolation zu begreifen. Ein Patentrezept gibt es nicht, doch findet Grün fünf Ratschläge wesentlich:
1. Man sollte dem eigenen Tag eine gute Struktur geben.
2. Wichtig ist, einen gesunden Ausgleich zwischen Nähe und Distanz zu finden. Zu viel Nähe macht auf Dauer aggressiv und nimmt Energie. Festgelegte Schweigezeiten wären eine gute Einrichtung, in der jeder für sich sein kann und nicht gestört wird.
3. Jeder sollte gut auf seine Gefühle achten. Wenn man aggressiv wird, ist das grundsätzlich nichts Schlechtes, sehr oft aber der Hilferuf: Ich brauche mehr Zeit für mich.
4. Sich zu fragen, welchen Sinn man dem Ganzen gibt, ist ein Gewinn: Kann ich vielleicht der neuen Lage einen Sinn abgewinnen und geben?
5. Und schließlich noch eine Frage des Glaubens: Was hält mich in dieser Situation?Worauf kann ich mich verlassen? Von wem fühle ich mich getragen?
Dass unsere neuen Krisenerfahrungen eine Chance sein können, wird oft gesagt. Doch viele merkten, dass schon kurze Zeit nach dem Frühjahrs-Lockdown alles wurde wie bisher. Der Lerneffekt scheint gering. Die Krise ist kein Lehrmeister. Aber sie bietet uns die Chance, Fragen wie diese zu stellen: Wie gehen wir künftig miteinander um?