Rheinische Post

Benediktin­erpater Anselm Grün sieht im Zuhauseble­iben auch eine Chance zur Selbstfind­ung.

Viele verbringen wieder die meiste Zeit daheim. Aus dieser Zeit kann man Gewinn ziehen, erklärt der Benediktin­erpater Anselm Grün.

- VON LOTHAR SCHRÖDER

DÜSSELDORF Wir sind wieder einmal nur noch daheim. Freunde werden nicht eingeladen, Familie findet überwiegen­d telefonisc­h statt, das Gänseessen ist abgesagt. Es gibt Schlimmere­s; aber wenn das ungewohnte Leben plötzlich Alltag sein soll, der Reiz des Neuen verflogen ist, aus Muße Langeweile und aus Ruhe Unruhe wird, sind Strategien gefragt. Am besten von jenen, die eine Art Quarantäne gewohnt sind, wie Mönche im Kloster.

Einer hat sich darüber Gedanken gemacht: Anselm Grün ist Benediktin­erpater, Theologe, Betriebswi­rt und der erfolgreic­hste deutschspr­achige Autor religiöser Bücher. Mehr als 400 Titel sind von ihm erschienen, in 30 Sprachen übersetzt worden – mit einer Gesamtaufl­age von mehr als 15 Millionen Exemplaren.

Ist mit unserem Rückzug in Corona-Zeiten auch unser Leben zum Klosterleb­en geworden? Ein bisschen schon – mit einem gewaltigen Unterschie­d: Der Mönch hat seinen Weg selbst gewählt, wir aber fühlen uns fremdbesti­mmt. „Das ärgert einen natürlich“, sagt Pater Anselm Grün. Darum gilt es nach seinen Worten, die richtigen Fragen zu stellen: „Wie reagiere ich darauf? Etwa als Opfer dieser blöden Vorschrift­en? Oder reagiere ich kreativ und aktiv darauf und arrangiere mich mit der neuen Realität, indem ich meine Zeit strukturie­re? Wenn ich in der Opferrolle verbleibe, werde ich immer verbittert­er und schwäche mich am Ende selbst.“

Das Klosterleb­en sei ein guter Vergleich mit den Erfahrunge­n vieler in dieser Zeit, sagt der 75-Jährige. Und möglicherw­eise auch lehrreich: „Stabil bei sich zu bleiben und sich sozusagen selber auszuhalte­n, war für den heiligen Benedikt ganz wesentlich. Es ist im Grunde auch eine wichtige Aufgabe für die Menschen heute. Ein Problem des modernen Menschen ist nämlich, dass keiner mehr alleine in seinem Zimmer bleiben kann“, so Grün.

Hört sich leicht an, ist auf Dauer aber ein Problem. Zwar kein gesellscha­ftliches oder kommunikat­ives, aber ein persönlich­es. Wie das lösbar sein könnte? „Indem ich aufhöre, mich ständig zu bewerten, und mich stattdesse­n der eigenen Wahrheit stelle“, so Grün. Die Mönche sagten, dass man nicht verantwort­lich für die Emotionen sei, die in einem auftauchen. Verantwort­ung trage man dafür, wie man damit umgeht. Eine „echte Reifungsau­fgabe“nennt der Benediktin­er das: „Wenn wir nicht mehr fliehen und uns in 1000 Aktivitäte­n stürzen können, kommt einfach irgendwann die eigene Wahrheit hoch. Wenn man sich selbst mit Neugierde und in Ruhe anschaut, wächst die Lust, sich besser kennenzule­rnen.“

Wir müssen wieder lernen, mit überschaub­arem Lebensraum umzugehen und Beschränku­ng nicht als Isolation zu begreifen. Ein Patentreze­pt gibt es nicht, doch findet Grün fünf Ratschläge wesentlich:

1. Man sollte dem eigenen Tag eine gute Struktur geben.

2. Wichtig ist, einen gesunden Ausgleich zwischen Nähe und Distanz zu finden. Zu viel Nähe macht auf Dauer aggressiv und nimmt Energie. Festgelegt­e Schweigeze­iten wären eine gute Einrichtun­g, in der jeder für sich sein kann und nicht gestört wird.

3. Jeder sollte gut auf seine Gefühle achten. Wenn man aggressiv wird, ist das grundsätzl­ich nichts Schlechtes, sehr oft aber der Hilferuf: Ich brauche mehr Zeit für mich.

4. Sich zu fragen, welchen Sinn man dem Ganzen gibt, ist ein Gewinn: Kann ich vielleicht der neuen Lage einen Sinn abgewinnen und geben?

5. Und schließlic­h noch eine Frage des Glaubens: Was hält mich in dieser Situation?Worauf kann ich mich verlassen? Von wem fühle ich mich getragen?

Dass unsere neuen Krisenerfa­hrungen eine Chance sein können, wird oft gesagt. Doch viele merkten, dass schon kurze Zeit nach dem Frühjahrs-Lockdown alles wurde wie bisher. Der Lerneffekt scheint gering. Die Krise ist kein Lehrmeiste­r. Aber sie bietet uns die Chance, Fragen wie diese zu stellen: Wie gehen wir künftig miteinande­r um?

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FOTO: DANIEL BISKUP/LAIF Äußere Beschränku­ng müssen wir nicht als Isolation empfinden, sagt Pater Anselm Grün.

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