„Länder versäumen den Schutz an Schulen“
Der Chef des Lehrerverbands wirft der Politik vor, sich in der Pandemie nicht genug um Schüler und Lehrer zu kümmern. Er warnt vor Bildungslücken, die sich kaum mehr schließen lassen.
Herr Meidinger, droht eine verlorene Generation durch Corona?
MEIDINGER Die Landesregierungen und Schulministerien versuchen zwar einerseits, Härten für die betroffenen Schüler durchVerordnungen und Regelungen zu vermeiden, also beispielsweise durch großzügige Versetzungsregelungen, veränderte Abschlussprüfungen und auch durch den vorübergehenden Verzicht auf vorgeschriebene Lehrplaninhalte. Allerdings bleibt davon das Grundproblem unberührt, nämlich die Frage, ob wir nicht in den nächsten Jahren Schulabsolventen haben werden, denen wegen der Coronakrise deutlich weniger Wissen und Kompetenzen vermittelt wurde und die deshalb geringere Zukunftschancen haben. Auch wenn ich noch nicht von einer verlorenen Generation sprechen würde: Ich warne davor, das Problem kleinzureden oder zu verdrängen. Die Monate des Lockdowns und der anschließenden Phase des Wechselbetriebs haben bei vielen Schülerinnen und Schülern zu erheblichen Lernrückständen geführt, die nicht so ohne Weiteres, sozusagen nebenbei, aufzuholen sind.
Sind die Bildungslücken dieses Jahres Ihrer Ansicht nach aufzuholen? Und wenn ja, wie?
MEIDINGER Das hängt von zwei Faktoren ab. Zum einen davon, dass diese Bildungslücken umfassend durch Lernstandserhebungen festgestellt und dann auch systematisch durch Zusatzförderung geschlossen werden. Dazu benötigen wir entsprechende Lernangebote und ein Gesamtkonzept. Beides zusammen, den kompletten neuen Lernstoff und die versäumten Kerninhalte des letzten Schuljahres gleichermaßen zu vermitteln, wird aber aktuell an Grenzen stoßen. Dazu fehlt uns schlicht auch das nötige Lehrpersonal. Wir tendieren allerdings dazu, dass die Wahrnehmung dieser zusätzlichen Lernangebote für leistungsschwächere Schüler verbindlich sein sollte.
Was, wenn das Infektionsgeschehen schlimmer wird?
MEIDINGER Wenn immer mehr Klassen und Lehrkräfte an immer mehr Schulen in Quarantäne geschickt werden müssen und der Unterrichtsausfall dadurch massiv zunimmt, wird es fast unmöglich werden, diese Bildungsdefizite in naher Zukunft zu beheben. Auch der Distanzunterricht bietet da keine Musterlösung, weil wir die Erfahrung gemacht haben, dass online individuelle Förderung nicht gut funktioniert und wenig motivierte Schüler verstärkt abtauchen. Deshalb sind die Länder dringend gefordert, den Gesundheitsschutz an Schulen zu intensivieren, um Infektionsausbrüche und erneute Schulschließungen zu verhindern. Da sehe ich leider massive Versäumnisse. Bei einem neuerlichen generellen Lockdown würde unser Ziel, die aufgelaufenen Bildungslücken zu schließen, in weite Ferne rücken.
Müssen die Lehrpläne umgestellt werden?
MEIDINGER In einer Reihe von Bundesländern gibt es bereits Empfehlungen oder Vorgaben für eine Priorisierung von Lehrplanzielen oder auch Listen vorübergehend verzichtbarer Lernstoffinhalte. Man muss sich allerdings von der Vorstellung frei machen, es gäbe da sehr viel Spielraum und man könne Lehrpläne ohne Weiteres mal schnell „entrümpeln“. In Fächern wie Mathematik und den Naturwissenschaften bauen Lehrplaninhalte systematisch aufeinander auf, da können sie nicht einfach etwas herausbrechen. Und auch in den Sprachen ist es schwierig, auf Inhalte ohne Qualitätseinbußen zu verzichten. Eine Reduzierung des Grundwortschatzes führt letzten Endes auch zu weniger Kommunikationsfähigkeit und einem geringeren inhaltlichen Verständnis.
Sollten die Klassen aufgeteilt werden, in Turnhallen umziehen, oder welche sinnvollen Corona-Konzepte gibt es?
MEIDINGER Unser Grundproblem an den Schulen ist, dass die Politik nach demWegfall der Abstandsregel in jetzt wieder vollen Klassenzimmern kein wirklich überzeugendes Hygienekonzept entwickelt und umgesetzt hat.Wer Schulen offenhalten will, muss auch alles dafür tun, dass der Unterrichtsbetrieb sicher ist. Da beobachte ich aber derzeit ein Komplettversagen der Bildungspolitik. Weder gibt es klare, an das Infektionsgeschehen gekoppelte Stufenpläne für eine Verschärfung von Hygieneschutzmaßnahmen, noch eine umfassende Nachrüstung mit Raumluftfilteranlagen wegen nicht ausreichender Lüftungsmöglichkeiten, noch einheitliche Vorgaben für den Einsatz von Atemschutzmasken im Unterricht. Bis heute ist es auch nicht gelungen, das Problem überfüllter Schulbusse zu lösen.
Wurden sonst über den Sommer Fortschritte gemacht?
MEIDINGER Nein. Auch bei der Anbindung von Schulen an schnelles Internet wurden kaum Fortschritte gemacht, sodass wir für eventuell wieder notwendigen Distanzunterricht nicht gut aufgestellt sind. Patentrezepte gibt es nicht. Weder versetzte Anfangszeiten noch die Umwidmung von Turnhallen zu Unterrichtsräumen führen vor Ort zu nennenswerten Entlastungseffekten.Wenn die Infektionszahlen weiter massiv ansteigen, wird nichts anderes übrig bleiben, als wieder den Mindestabstand im Klassenzimmer herzustellen, und das heißt Wechselbetrieb zwischen Distanz- und Präsenzunterricht mit halbierten Klassen. Dadurch würde sich übrigens auch das Gedränge in den Pausenhöfen, an den Bushaltestellen, auf den Schulgängen und in den Bussen deutlich reduzieren.
Haben Sie Verständnis für das Vorgehen von NRW-Schulministerin Yvonne Gebauer?
MEIDINGER Warum in NRW Schulministerin Gebauer selbst in absoluten Hotspot-Gebieten wie Solingen solche Lösungen verbietet, hat nichts mit einer sachlichen Gefährdungsanalyse zu tun, sondern ist rein dem politischen Willen geschuldet, den Vollbetrieb an Schulen ungeachtet steigender Infektionszahlen auf Biegen und Brechen offen zu halten. Wenn die Politik meint, dass dies der Mehrheitswille in der Bevölkerung sei, dann täuscht sie sich gewaltig. Dass im „Lockdown light“-Monat November die Menschen aufgefordert werden Abstand zu halten, Atemschutzmasken zu tragen und sich maximal zwei Haushalte treffen dürfen, während an Schulen bis zu 30 Haushalte ohne Abstand und oft ohne Maske dicht an dicht im Klassenzimmer sitzen, dann versteht das doch niemand mehr.