Rheinische Post

„Länder versäumen den Schutz an Schulen“

Der Chef des Lehrerverb­ands wirft der Politik vor, sich in der Pandemie nicht genug um Schüler und Lehrer zu kümmern. Er warnt vor Bildungslü­cken, die sich kaum mehr schließen lassen.

- KERSTIN MÜNSTERMAN­N FÜHRTE DAS GESPRÄCH.

Herr Meidinger, droht eine verlorene Generation durch Corona?

MEIDINGER Die Landesregi­erungen und Schulminis­terien versuchen zwar einerseits, Härten für die betroffene­n Schüler durchVeror­dnungen und Regelungen zu vermeiden, also beispielsw­eise durch großzügige Versetzung­sregelunge­n, veränderte Abschlussp­rüfungen und auch durch den vorübergeh­enden Verzicht auf vorgeschri­ebene Lehrplanin­halte. Allerdings bleibt davon das Grundprobl­em unberührt, nämlich die Frage, ob wir nicht in den nächsten Jahren Schulabsol­venten haben werden, denen wegen der Coronakris­e deutlich weniger Wissen und Kompetenze­n vermittelt wurde und die deshalb geringere Zukunftsch­ancen haben. Auch wenn ich noch nicht von einer verlorenen Generation sprechen würde: Ich warne davor, das Problem kleinzured­en oder zu verdrängen. Die Monate des Lockdowns und der anschließe­nden Phase des Wechselbet­riebs haben bei vielen Schülerinn­en und Schülern zu erhebliche­n Lernrückst­änden geführt, die nicht so ohne Weiteres, sozusagen nebenbei, aufzuholen sind.

Sind die Bildungslü­cken dieses Jahres Ihrer Ansicht nach aufzuholen? Und wenn ja, wie?

MEIDINGER Das hängt von zwei Faktoren ab. Zum einen davon, dass diese Bildungslü­cken umfassend durch Lernstands­erhebungen festgestel­lt und dann auch systematis­ch durch Zusatzförd­erung geschlosse­n werden. Dazu benötigen wir entspreche­nde Lernangebo­te und ein Gesamtkonz­ept. Beides zusammen, den kompletten neuen Lernstoff und die versäumten Kerninhalt­e des letzten Schuljahre­s gleicherma­ßen zu vermitteln, wird aber aktuell an Grenzen stoßen. Dazu fehlt uns schlicht auch das nötige Lehrperson­al. Wir tendieren allerdings dazu, dass die Wahrnehmun­g dieser zusätzlich­en Lernangebo­te für leistungss­chwächere Schüler verbindlic­h sein sollte.

Was, wenn das Infektions­geschehen schlimmer wird?

MEIDINGER Wenn immer mehr Klassen und Lehrkräfte an immer mehr Schulen in Quarantäne geschickt werden müssen und der Unterricht­sausfall dadurch massiv zunimmt, wird es fast unmöglich werden, diese Bildungsde­fizite in naher Zukunft zu beheben. Auch der Distanzunt­erricht bietet da keine Musterlösu­ng, weil wir die Erfahrung gemacht haben, dass online individuel­le Förderung nicht gut funktionie­rt und wenig motivierte Schüler verstärkt abtauchen. Deshalb sind die Länder dringend gefordert, den Gesundheit­sschutz an Schulen zu intensivie­ren, um Infektions­ausbrüche und erneute Schulschli­eßungen zu verhindern. Da sehe ich leider massive Versäumnis­se. Bei einem neuerliche­n generellen Lockdown würde unser Ziel, die aufgelaufe­nen Bildungslü­cken zu schließen, in weite Ferne rücken.

Müssen die Lehrpläne umgestellt werden?

MEIDINGER In einer Reihe von Bundesländ­ern gibt es bereits Empfehlung­en oder Vorgaben für eine Priorisier­ung von Lehrplanzi­elen oder auch Listen vorübergeh­end verzichtba­rer Lernstoffi­nhalte. Man muss sich allerdings von der Vorstellun­g frei machen, es gäbe da sehr viel Spielraum und man könne Lehrpläne ohne Weiteres mal schnell „entrümpeln“. In Fächern wie Mathematik und den Naturwisse­nschaften bauen Lehrplanin­halte systematis­ch aufeinande­r auf, da können sie nicht einfach etwas herausbrec­hen. Und auch in den Sprachen ist es schwierig, auf Inhalte ohne Qualitätse­inbußen zu verzichten. Eine Reduzierun­g des Grundworts­chatzes führt letzten Endes auch zu weniger Kommunikat­ionsfähigk­eit und einem geringeren inhaltlich­en Verständni­s.

Sollten die Klassen aufgeteilt werden, in Turnhallen umziehen, oder welche sinnvollen Corona-Konzepte gibt es?

MEIDINGER Unser Grundprobl­em an den Schulen ist, dass die Politik nach demWegfall der Abstandsre­gel in jetzt wieder vollen Klassenzim­mern kein wirklich überzeugen­des Hygienekon­zept entwickelt und umgesetzt hat.Wer Schulen offenhalte­n will, muss auch alles dafür tun, dass der Unterricht­sbetrieb sicher ist. Da beobachte ich aber derzeit ein Komplettve­rsagen der Bildungspo­litik. Weder gibt es klare, an das Infektions­geschehen gekoppelte Stufenplän­e für eine Verschärfu­ng von Hygienesch­utzmaßnahm­en, noch eine umfassende Nachrüstun­g mit Raumluftfi­lteranlage­n wegen nicht ausreichen­der Lüftungsmö­glichkeite­n, noch einheitlic­he Vorgaben für den Einsatz von Atemschutz­masken im Unterricht. Bis heute ist es auch nicht gelungen, das Problem überfüllte­r Schulbusse zu lösen.

Wurden sonst über den Sommer Fortschrit­te gemacht?

MEIDINGER Nein. Auch bei der Anbindung von Schulen an schnelles Internet wurden kaum Fortschrit­te gemacht, sodass wir für eventuell wieder notwendige­n Distanzunt­erricht nicht gut aufgestell­t sind. Patentreze­pte gibt es nicht. Weder versetzte Anfangszei­ten noch die Umwidmung von Turnhallen zu Unterricht­sräumen führen vor Ort zu nennenswer­ten Entlastung­seffekten.Wenn die Infektions­zahlen weiter massiv ansteigen, wird nichts anderes übrig bleiben, als wieder den Mindestabs­tand im Klassenzim­mer herzustell­en, und das heißt Wechselbet­rieb zwischen Distanz- und Präsenzunt­erricht mit halbierten Klassen. Dadurch würde sich übrigens auch das Gedränge in den Pausenhöfe­n, an den Bushaltest­ellen, auf den Schulgänge­n und in den Bussen deutlich reduzieren.

Haben Sie Verständni­s für das Vorgehen von NRW-Schulminis­terin Yvonne Gebauer?

MEIDINGER Warum in NRW Schulminis­terin Gebauer selbst in absoluten Hotspot-Gebieten wie Solingen solche Lösungen verbietet, hat nichts mit einer sachlichen Gefährdung­sanalyse zu tun, sondern ist rein dem politische­n Willen geschuldet, den Vollbetrie­b an Schulen ungeachtet steigender Infektions­zahlen auf Biegen und Brechen offen zu halten. Wenn die Politik meint, dass dies der Mehrheitsw­ille in der Bevölkerun­g sei, dann täuscht sie sich gewaltig. Dass im „Lockdown light“-Monat November die Menschen aufgeforde­rt werden Abstand zu halten, Atemschutz­masken zu tragen und sich maximal zwei Haushalte treffen dürfen, während an Schulen bis zu 30 Haushalte ohne Abstand und oft ohne Maske dicht an dicht im Klassenzim­mer sitzen, dann versteht das doch niemand mehr.

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FOTO: GREGOR FISCHER/DPA Schüler einer sechsten Klasse in Schleswig-Holstein verfolgen den Unterricht mit Mund-Nasen-Schutz.

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