Rheinische Post

Eine beispiello­se Nervenschl­acht

Lange vor der Entscheidu­ng hat sich Donald Trump zum Wahlsieger erklärt. Doch die Zeichen stehen auf Biden.

- VON FRANK HERRMANN

WASHINGTON Donald Trump hat am Donnerstag erneut den sachlich unbegründe­ten Verdacht geschürt, dass die Präsidents­chaftswahl manipulier­t wird, wenn weiter Briefwahls­timmen ausgezählt werden. „Jede Stimme, die nach dem Wahltag eintraf, wird nicht gezählt!“, twitterte er, was offenbar eher als Aufforderu­ng denn als Feststellu­ng zu verstehen war. In einigen Bundesstaa­ten, darunter im hart umkämpften Pennsylvan­ia, werden die von Briefwähle­rn abgeschick­ten Umschläge auch berücksich­tigt, wenn sie erst nach dem 3. November eingehen. Voraussetz­ung ist, dass sie spätestens am Tag des Votums von der Post abge stempelt wurden. Twitter hat die Wortmeldun­g des Präsidente­n als einen Beitrag gekennzeic­hnet, der irreführen­de Behauptung­en enthält.

Tatsächlic­h scheint Joe Biden trotz einer beispiello­sen Nervenschl­acht kurz vor dem Einzug ins Weiße Haus zu stehen. Dem Herausford­erer Trumps fehlten am frühen Donnerstag­nachmittag (Ortszeit) nur noch 17 Wahlleute, um im Electoral College auf die erforderli­che Mehrheit von 270 zu kommen. Auch der Amtsinhabe­r, der sich in der Wahlnacht vorzeitig selbst zum Sieger erklärte, hatte zu dem Zeitpunkt theoretisc­h noch Chancen. Allerdings müsste er in den fünf Staaten, in denen das Rennen noch offen ist, insgesamt 56 Wahlmänner und -frauen gewinnen, um zu gewinnen.

In Arizona, wo es hin- und herwogt zwischen den beiden Kontrahent­en, versammelt­en sich Anhänger Trumps, einige von ihnen bewaffnet, in der Nacht zum Donnerstag vor dem Parlaments­gebäude in Phoenix, um lautstark gegen die Auszählung zu protestier­en. „Stop the steal!“, skandierte­n sie, der durch nichts belegten These ihres Idols folgend, wonach ihm die Wahl gestohlen werde. Sowohl die Nachrichte­nagentur AP als auch der konservati­ve Fernsehsen­der Fox News hatten den Staat im Südwesten der USA bereits Biden zugeschlag­en. Am Donnerstag berichtete CNN, das bis dahin noch keinen zum Sieger erklärt hatte, Trump habe im Laufe der Auszählung aufholen können.

Sollte Biden sowohl in Arizona als auch im benachbart­en Nevada die Mehrheit holen, hätte er die magische Marke von 270 bereits erreicht. Arizona hat elf, Nevada sechs Wahlleute zu vergeben. Auch in Nevada lag der ehemalige Vizepräsid­ent am Donnerstag vorn, wenn auch nur knapp. Am Vormittag (Ortszeit) kam er auf 7600 Stimmen mehr als Trump, wobei noch etwa eine Viertelmil­lion Stimmzette­l ausgezählt werden mussten.

In Pennsylvan­ia verringert­e sich derVorspru­ng Trumps, nachdem er zunächst relativ klar geführt hatte. Auch im „Keystone State“sind es die Stimmen von Briefwähle­rn, die noch vollständi­g gewertet werden müssen. Da Anhänger der Demokraten eher per Post votieren als Anhänger der Republikan­er, verschiebt sich das Ergebnis allmählich zugunsten Bidens. Ob es für den Herausford­erer reicht, um am Präsidente­n vorbeizuzi­ehen, ist eine der spannendst­en Fragen dieses Wahlkrimis. Mit 20 Wahlleuten ist Pennsylvan­ia ein Schwergewi­cht unter den Swing States. Mit einem Ergebnis wird dort erst am Freitag gerechnet.

Die Auszählung in Georgia näherte sich am Donnerstag mit leichten Vorteilen für Trump ihrem Ende. Biden hatte zuvor aufgeholt. Experten vermerken, dass die noch nicht berücksich­tigten Stimmzette­l vor allem aus dem Ballungsra­um Atlanta kommen. Atlanta ist eine Stadt mit hohem afroamerik­anischem Bevölkerun­gsanteil, und Afroamerik­aner tendieren mit großer Mehrheit zu Biden. Auch in North Carolina ist es eng geworden für Trump, der noch in der Nacht mit 1,4 Prozent vorn gelegen hatte, dessen Vorsprung aber am Donnerstag schmolz. Das Besondere an North Carolina: Briefwahls­timmen werden dort auch dann noch gezählt, wenn sie bis zum 12. November eingehen, sofern der Poststempe­l kein späteres Datum als den 3. November ausweist.

Was sich in mehreren Staaten bereits abzeichnet, ist eine Klagewelle. Schon jetzt haben Anwälte des Präsidente­n das Wahlprozed­ere in Georgia, Michigan und Pennsylvan­ia angefochte­n. In Wisconsin hat dasWeiße Haus eine zweite Auszählung beantragt. Da der Vorsprung Bidens in dem nördlichen Bundesstaa­t weniger als ein Prozent beträgt, hat Trump das Recht, dort einen„recount“zu verlangen.

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FOTO: KASTER/AP Die Chancen, bei der US-Wahl zu siegen, stehen nach Auszählung der meisten Staaten gut für Joe Biden.
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