Rheinische Post

„Mit jedem Schritt die Welt inklusiver machen“

Lina Maria Kotschedof­f ist fast blind, trotzdem läuft sie Marathon – für Spenden und für mehr Teilhabe von Menschen mit Behinderun­g.

- VON VERENA KENSBOCK

DÜSSELDORF Ihren ersten Kilometer ist Lina Maria Kotschedof­f vor zehn Jahren gelaufen. Ganz langsam hat sie damals angefangen und sich nach und nach an den Sport herangetas­tet. Nach tausend Metern war sie damals so fertig wie heute nach einem Zehn-Kilometer-Lauf. Es ist aber nicht nur das Laufen, an das sich die Düsseldorf­erin gewöhnen muss, sondern auch das Sehen, genau genommen Laufen beim Nicht-Sehen.

Als Lina Maria Kotschedof­f neun Jahre alt ist, wird bei ihr eine unheilbare Netzhauter­krankung festgestel­lt. Die bewirkt, dass ihre Sehkraft heute nur noch bei fünf Prozent liegt – sie ist fast blind. Doch Lina Maria Kotschedof­f läuft trotzdem. Meist mit einem Partner, der ein Stück vor ihr zu ihrer Linken läuft. „Weil mein linkes Auge besser ist, kann ich mich an der Schulter orientiere­n“, sagt sie. Zudem gibt der Laufpartne­r klare Kommandos.„Zu mir“und „zu dir“gibt die Richtung an, mit„Hinter mich“kann die Läuferin einem Hindernis ausweichen und auf „drei, zwei, eins – hopp“überspring­t sie Bordsteine.

Dass sie sich von ihrer Sehschwäch­e nicht aufhalten lässt, hat Kotschedof­f oft bewiesen. Sie besuchte eine Regelschul­e, machte ihr Abitur, studierte an einer Elite-Hochschule und bereiste dieWelt.„Behinderun­g ist keine Verhinderu­ng“, habe ihre Mutter häufig gesagt und bis heute wiederholt Lina Maria Kotschedof­f das immer wieder.

Das Laufen ist nun seit zehn Jahren mehr als Kotschedof­fs Hobby, es ist auch Ausdruck ihrer Unabhängig­keit. Und es ist ein Projekt für den guten Zweck geworden. Schon während ihres Management-Studiums organisier­t sie einen Spendenlau­f für Kinder in indischen Slums. Ihren ersten Marathon, den sie 2018 in Düsseldorf absolviert, läuft sie für den Verein Favela Education, der Kinder in Rio de Janeiro unterstütz­t – für Lina Maria Kotschedof­f, deren Mutter aus Brasilien stammt, eine besondere Botschaft.

Seitdem hat sie sich eines vorgenomme­n: Alle zwei Jahre will sie 42,195 Kilometer für einen guten Zweck laufen. In diesem Jahr sollte es Mitte März in Barcelona so weit sein. Mit drei Trainern hat sich Lina Maria Kotschedof­f auf den Marathon vorbereite­t, ist 50 bis 70 Kilometer die Woche gelaufen. Jeden Sonntag war sie mit einem Düsseldorf­er unterwegs. Über die Plattform„Leih mir deine Augen“haben sich andere Läufer als Guides gemeldet, die Kotschedof­f am Rhein entlang gelotst haben. Nach fünf Minuten Einführung in die Kommandos sind sie gemeinsam eine bekannte Strecke gelaufen. „Das ist ein ganz tolles Erlebnis für beide Parteien“, sagt Kotschedof­f. „Aber man muss den Laufpartne­rn schon die Angst nehmen.“

Wegen Corona wurde der Marathon zunächst auf Oktober verschoben, dann komplett abgesagt. Lina Maria Kotschedof­f wollte ihr Projekt deswegen aber nicht fallen lassen. „Wir wollten Corona nicht die Macht geben und das Projekt absagen“, sagt die 37-Jährige. „Ich will die Welt mit jedem Schritt inklusiver machen.“

Also ist sie einfach trotzdem gelaufen. Zusammen mit zwei Laufpartne­rn bahnte sie sich am 25. Oktober über die Distanz eines Halbmarath­ons den Weg durch Düsseldorf. Und hundert Läufer aus sieben Ländern waren mit ihr bei dem Spendenlau­f unterwegs – aus Brasilien, Spanien, der Schweiz, Schweden, Deutschlan­d und Israel. 820,525 Kilometer und mehr als 8800 Euro Spenden sind so zusammenge­kommen. Das Geld soll einer Ballettsch­ule für blinde Kinder in Sao Paulo zugute kommen.

Und Lina Maria Kotschedof­f wäre nicht sie selbst, wenn sie nicht schon neue Pläne schmieden würde. In zwei Jahren will sie den Marathon in New York laufen, diesmal vor Ort.

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FOTO: RALF PUDER Lina Maria Kotschedof­f (l.) unterwegs mit Laufguide Anne-Birthe Schramm, die sie an Hinderniss­en vorbeilots­t..
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FOTO: BERND SCHALLER Trotz Sehbehinde­rung läuft sie Spenden-Marathons.
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