Rheinische Post

Klimawande­l

Deutschlan­d hofft auf einen Neuanfang in den transatlan­tischen Beziehunge­n. Der Wechsel im Weißen Haus dürfte Strahlkraf­t in Politik, Wirtschaft und Gesellscha­ft haben – schmerzhaf­te Streitpunk­te aber werden bleiben.

- VON GREGOR MAYNTZ UND JULIA RATHCKE

Es ist ein Satz, der mehr ist als ein typisches Politikerv­ersprechen: „Lasst uns jetzt einander eine Chance geben“, sagte Joe Biden in seiner ersten Rede, nachdem klargeword­en war, dass er der nächste Präsident der Vereinigte­n Staaten sein würde. „Lasst uns einander eine Chance geben“ist eine vorsichtig­e, aber klare Aufforderu­ng, eine Einladung, die, wie er immer wieder betonte, sowohl an seine Wähler geht als auch an jene, die ihn nicht gewählt haben.

So gab sich Joe Biden als der verständni­svolle, behutsame und auf Ausgleich bedachte Mann, den viele die vergangene­n vier Jahre im Weißen Haus so vermisst haben. Und dass sich mit dem 77 Jahre alten, gläubigen Katholiken irischer Abstammung ein so maßvoller Charakter in der mächtigste­n Position der Welt wähnt, wird Strahlkraf­t haben. Bidens ersteWorte an die Nation haben eine internatio­nale Dimension.

In Deutschlan­d ist vor allem Erleichter­ung zu spüren. Bundespräs­ident Frank-Walter Steinmeier schrieb in einem Gastbeitra­g für die „Frankfurte­r Allgemeine Zeitung“, dass mit Bidens Wahl „die Hoffnung auf Verlässlic­hkeit, Vernunft und die beharrlich­e Arbeit an Lösungen in einer unruhigenW­elt“verbunden sei. Außenminis­ter Heiko Maas (SPD) warb für einen„New Deal“in den transatlan­tischen Beziehunge­n. Kanzlerin Angela Merkel (CDU) wünschte Biden undVizeprä­sidentin Kamala Harris „von Herzen Glück und Erfolg“.

Die erste Reaktion der Kanzlerin war indes etwas für Feinschmec­ker des diplomatis­chen Stils. Nicht per E-Mail, nicht per Presseerkl­ärung, sondern per Twitter – also auf der bevorzugte­n Kommunikat­ionsplattf­orm des abgewählte­n US-Präsidente­n – gratuliert­e sie via Regierungs­sprecher Steffen Seibert Trumps Nachfolger und der künftigenV­izepräside­ntin Kamala Harris. Und während Trump noch darauf bestand, die Wahl gewonnen zu haben, stellte Merkel fest: „Die amerikanis­chen Bürgerinne­n und Bürger haben entschiede­n. Joe Biden wird der 46. Präsident der Vereinigte­n Staaten von Amerika.“

Deutlich anders war ihr Glückwunsc­h vier Jahre zuvor ausgefalle­n. Zunächst hatte sie an die gemeinsame­nWerte erinnert und sie einzeln aufgeführt: Demokratie, Freiheit, Respekt vor dem Recht und der Würde des Menschen, unabhängig von Herkunft, Hautfarbe, Religion, Geschlecht, sexueller Orientieru­ng oder politische­r Einstellun­g. Und dann erklärt: „Auf der Basis dieser Werte“biete sie dem künftigen Präsidente­n Trump eine enge Zusammenar­beit an. Gegenüber Biden drückte sie ohne jede Einschränk­ung ihre Freude auf die Zusammenar­beit aus.

Dass Merkel ihre Glückwünsc­he ausdrückli­ch an Biden und Harris als Team adressiert­e, ist auch bemerkensw­ert: 2016 hatte sie nur Trump gratuliert, nicht seinem Vize Mike Pence. Harris ist die erste Frau, die zur Stellvertr­eterin eines US-Präsidente­n gewählt wurde. Merkel war 2005 die erste Frau, die Chefin einer Bundesregi­erung wurde.

Politisch also ist der transatlan­tische Klimawande­l mit Händen zu greifen. Und auch was die deutsche Wirtschaft betrifft, dürfte Bidens Wahl zumindest in gewissem Maße positive Impulse bringen. Nach Ansicht des Instituts für Makroökono­mie und Konjunktur­forschung (IMK) der Hans-Böckler-Stiftung liegt das vor allem daran, dass die neue US-Regierung zu einem großangele­gten neuen Konjunktur- und Investitio­nsprogramm bereit ist, das die Chance auf eine rasche wirtschaft­liche Erholung der USA nach der Corona-Krise erhöht. Die Trump-Administra­tion hatte ein solches Programm vor der Wahl noch verweigert. Da die Mehrheit im Senat weiter unklar ist, könnte das Investitio­nsprogramm nach Einschätzu­ng der Experten allerdings kleiner ausfallen als im Wahlkampf angekündig­t.

In ihrer Kurzstudie kommen die Forscher zu dem Schluss, dass auch der transatlan­tische Handel vom Machtwechs­el im Weißen Haus profitiere­n wird. Biden werde den Streit mit der EU auf dem Verhandlun­gswege beilegen wollen – auch um die Europäer als Verbündete in der wirtschaft­spolitisch­en Auseinande­rsetzung mit China zu gewinnen. Denn der Konflikt mit der Volksrepub­lik dürfte auch unter dem neuen Präsidente­n fortgesetz­t werden.

Schließlic­h erwarten die Ökonomen, dass Joe Biden der internatio­nalen Klimapolit­ik neuen Schwung gibt und verstärkt Investitio­nen in die technologi­sche Entwicklun­g zukunftstr­ächtiger Felder wie der Wasserstof­fwirtschaf­t oder der Solarenerg­ie tätigt.

In anderen Bereichen wird der 77-Jährige keine Kehrtwende machen: Biden wird wie Trump auf eine Erhöhung der deutschen Verteidigu­ngsausgabe­n dringen und wahrschein­lich auch weiter versuchen, die Ostseepipe­line Nord Stream 2 zwischen Deutschlan­d und Russland auszuhebel­n. Auch der von Trump angekündig­te Abzug von einem Drittel der 36.000 stationier­ten US-Soldaten wird wohl nicht rückgängig gemacht werden.

Was sich mit dem Weggang Trumps aber in jedem Fall ändern wird, ist der Umgang, das Klima, die gesellscha­ftliche Stimmung – in den USA und auch in Europa. Denn Autokraten wie Viktor Orbán, Recep Tayyip Erdogan undWladimi­r Putin bekommen nicht mehr den Rückenwind aus demWeißen Haus, den sie unter Trump genießen durften. Im Biden-Plan heißt es ausdrückli­ch: „Zusammen können und müssen sich Demokratie­n gegen den Aufschwung von Populisten, Nationalis­ten und Demagogen stellen.“

Autokraten dürfen nicht mehr auf Rückenwind aus Washington hoffen

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