Rheinische Post

Zu volle Klassen – Streit um den Präsenzunt­erricht.

Hohe Infektions­zahlen, fehlende Abstände: Viele Schulen würden Klassen und Lerngruppe­n gerne verkleiner­n und einen Teil des Unterricht­s digital anbieten. Doch das Land hat solchen Wechselmod­ellen eine Absage erteilt.

- VON JÖRG JANSSEN

DÜSSELDORF Die weiterhin dynamische Entwicklun­g der Pandemie verschärft die Debatte um die Verkleiner­ung von Klassen und Lerngruppe­n. Größere Abstände in den Klassen würden den Infektions­schutz verbessern und so den Schülern mehr Pausen beim Maskentrag­en ermögliche­n, argumentie­ren zahlreiche Lehrer und Schüler. Konzepte für eine Kombinatio­n von Präsenzunt­erricht und dem Lernen auf Distanz liegen an vielen Standorten bereits in der Schublade. Doch dort werden sie erst einmal auch bleiben. Die Landespoli­tik tritt bei diesem Thema auf die Bremse. Bedenken gibt es aber auch bei Elterninit­iativen. Dort fürchtet man, zum zweiten Mal in diesem Jahr die Betreuung der Kinder neben der Arbeit übernehmen zu müssen. Die wichtigste­n Fakten im Überblick.

Was spricht für gemischte Modelle? Über gute Gründe für hybride Modelle, bei denen Präsenz- und Distanzzei­ten miteinande­r kombiniert werden, muss Angelika Pick, Leiterin des Lore-Lorentz-Berufskoll­egs in Eller, nicht lange nachdenken. Am Montag hatten ihr drei weitere Schüler eine Ansteckung mit dem Coronaviru­s gemeldet. „Die Fälle nehmen zu, nicht nur an unserer Schule. Deshalb wäre es gut, zur Verbesseru­ng des Infektions­schutzes die Lerngruppe­n zu verkleiner­n“, sagt die erfahrene Pädagogin. Die Konzepte für ein Lernen zu Hause und in der Schule liegen in ihrer Schublade. Inzwischen verfügten alle über einen schulische­n Mail-Zugang und könnten mit der Software von MS Office Teams umgehen: „Im ersten Lockdown haben wir die Abläufe eingeübt, heute sind wir viele Schritte weiter, wir würden das hinkriegen.“Nicht nur technisch, auch mit Blick auf die Lerninhalt­e hält sie das Wechselmod­ell für machbar. In der einen Woche würden in der Schule neue Inhalte beispielsw­eise in Betriebswi­rtschaftsl­ehre erklärt, in der Folgewoche könnten Schüler dann zu Hause den Stoff üben, anwenden und vertiefen.„Dazu gibt es Hilfen per Videoschal­te und natürlich Lernkontro­llen.“

Ganz ähnlich schätzt das Kristina Mandalka, Leiterin der Georg-Schulhoff-Realschule, ein. Bis zu 32 Kinder sitzen bei ihr in einer Klasse. Hinzu kommt der Schulweg, auf dem viele ihrer Schützling­e in volle Busse und Bahnen steigen. „Wenn wir es dürften, würden wir es machen und die Klassen halbieren“, sagt sie über das Wechselmod­ell. Diese Einschätzu­ng dominiere auch im Kollegium:„Den meisten wäre mit Blick auf Corona sehr viel weniger mulmig zumute, wenn wir die Lerngruppe­n vor Ort kleiner machen könnten.“

Warum werden die Konzepte nicht umgesetzt? Weil das Land nach einem Präzedenzf­all in Solingen klar gemacht hat, dass es kommunale Wechselmod­elle nicht wünscht. Angesichts einer hohen Sieben-Tage-Inzidenz hatte die Stadt im Bergischen geplant, an weiterführ­enden Schulen mit Ausnahme der Abschlussk­lassen wechselwei­se Präsenz- und Digitalunt­erricht zu erteilen. Unter anderem empfiehlt das Robert-Koch-Institut, bereits ab einer Sieben-Tage-Inzidenz von 50 die Klassen zu teilen. Wie in Düsseldorf hatte in Solingen dieser Wert, der die Zahl der Infizierte­n auf 100.000 Einwohner in den letzten sieben Tagen angibt, mehrfach die Schwelle von 200 überschrit­ten. Dagegen erklärte NRW-Schulminis­terin Yvonne Gebauer, eine pauschale Reduzierun­g des Präsenzunt­errichts führe zu sozialer Benachteil­igung vor allem jener, die im häuslichen Umfeld weniger Unterstütz­ung erhalten. Außerdem wäre das Ganze erneut mit großen Herausford­erungen für die Eltern verbunden.

Was sagt die Stadt als Schulträge­r zu den neuen Vorgaben? „Ich bedauere die Absage an dieWechsel­modelle sehr und verstehe nicht, warum trotz der enormen Fortschrit­te seit dem Frühjahr plötzlich keine Anwendung mehr erwünscht ist“, sagt Schuldezer­nent Burkhard Hintzsche. Schließlic­h gehe es ja nicht darum, den Präsenzunt­erricht zu ersetzen, sondern um eine in die Zukunft weisende Ergänzung.Viel Geld und Know-how sei in dieWeitere­ntwicklung des digitalen Lernens geflossen. „Im März hat man uns vorgeworfe­n, in Sachen Digitalisi­erung an den Schulen nicht weit genug zu sein. Und jetzt, wo wir gerade hier in Düsseldorf zum Vorreiter geworden sind, sollen wir es nicht umsetzen – andere Bundesländ­er sind da weiter“, sagt Hintzsche.

Was würden Eltern zum Wechselmod­ell sagen? Die Meinungen darüber, ob und ab welchem Alter digitaler Unterricht ein gleichwert­iges Angebot darstellen kann, gehen weit auseinande­r. Nicht zuletzt hängt die Einschätzu­ng davon ab, wie profession­ell die jeweilige Schule das Thema umsetzt. Allerdings wollen die wenigsten die Erfahrunge­n aus dem ersten Lockdown, als sie sich zwischen Home Office und Home Schooling aufgeriebe­n fühlten, noch einmal machen. „Ich und viele meiner Mitstreite­r würden es nicht mehr wollen“, sagt Nele Flüchter von der Initiative „Familien in der Krise“. Käme es tatsächlic­h so, will sich die zweifache Mutter aus dem Job ausklinken, auch wenn sie dann mit etwa zwei Dritteln ihres Lohnes klar kommen müsste. „Der Gesetzgebe­r bietet das an und ich würde es machen.“Wechselmod­elle hält die Pädagogin, die an einem Kolleg junge Menschen betreut, nur in der Oberstufe für vertretbar. Mehr Abstand und die Chance auf längere Maskenpaus­en hält sie auch bei durchgängi­gem Präsenzunt­erricht mit weiterhin ungeteilte­n Klassen für machbar. „Man kann Messehalle­n, zusätzlich­e Container und leerstehen­de Räume im Kultursekt­or nutzen, um die Schüler einer Klasse weiter auseinande­rzusetzen.“

 ?? RP-FOTO: HANS-JÜRGEN BAUER ?? An der Georg-Schulhoff-Realschule üben Schulleite­rin Kristina Mandalka (l.) und Corinna Liborius den digitalen Unterricht.
RP-FOTO: HANS-JÜRGEN BAUER An der Georg-Schulhoff-Realschule üben Schulleite­rin Kristina Mandalka (l.) und Corinna Liborius den digitalen Unterricht.

Newspapers in German

Newspapers from Germany