Türkische Medien schweigen zu Ministerrücktritt
Mitternacht war längst vorüber, als der türkische Journalist Cüneyt Özdemir unrasiert und mit dunklen Ringen unter den Augen eine Live-Sendung auf seinem YouTube-Kanal moderierte. Trotz der späten Stunde schauten Hunderttausende der mehr als dreistündigen Sendung zu – bis zum Mittwoch wurde Özdemirs Beitrag mehr als 1,8 Millionen Mal angeklickt. Dabei machte Özdemir nur seine Arbeit: Er informierte seine Zuschauer über den Rücktritt von Finanzminister Berat Albayrak, eines Schwiegersohns von Präsident Recep Tayyip Erdogan. Den Zuschauererfolg konnte er feiern, weil er einer der wenigen Journalisten im Land war, die überhaupt über Albayraks Abgang berichteten. Alle großen Fernsehsender und Zeitungen verschwiegen den Rücktritt einen Tag lang.
Der Umgang mit Albayraks Rücktritt hat gezeigt, wie tief die meisten Medien in der Türkei gesunken sind. Sender und Zeitungen wagten es nicht, über den Rücktritt zu berichten, bis sie eine Weisung aus dem Präsidentenpalast erhielten. Weder die staatliche Nachrichtenagentur Anadolu noch Zeitungen wie „Hürriyet“oder Nachrichtensender wie CNN-Türk meldeten, dass Albayrak sein Amt aufgegeben hatte. Erst als Erdogan mehr als 24 Stunden später den Rücktritt seines Schwiegersohns annahm, hoben Anadolu und andere große Medien ihre Nachrichtensperren auf.
Seitdem wird selbst in einigen Erdogan-treuen Medien Kritik geäußert. CNN-Türk und „Hürriyet“gehören zu Großunternehmen, die Erdogans Regierung unterstützen, um sich das Wohlwollen des Präsidenten und öffentliche Aufträge zu sichern. Über die Jahre hat sich die Regierung so die Gefolgschaft von rund 90 Prozent der landesweiten Medien in der Türkei verschafft. Staatliche Medien sind ebenfalls zu Sprachrohren Erdogans geworden.
Doch selbst Journalisten bei den Staatsmedien haben inzwischen Bauchschmerzen. Nach Albayraks Rücktritt riefen Mitarbeiter regierungsnaher Medien den unabhängigen Journalisten Rusen Cakir an und forderten ihn auf, den Abgang des Ministers zu melden, wie Cakir in seinem Internet-Fernsehkanal Medyascope berichtete. Sie selbst dürften es nicht. Wegen dieser Zustände informieren sich immer mehr Türken bei Kanälen wie Medyascope oder Özdemirs YouTube-Kanal. Erdogans Regierung will dieseWege mit einem neuen Gesetz für die sozialen Medien stärker kontrollieren. Cakir ist aber sicher, dass Ankara diesen Kampf verlieren wird, weil die technologische Entwicklung immer neue Schlupflöcher ermöglichen wird.