Rheinische Post

Flucht in die Realität

Die Webserie „Druck“für 14- bis 20-Jährige ist nah am Lebensgefü­hl der Zielgruppe.

- VON MAREI VITTINGHOF­F

Montagmorg­en auf dem Schulhof. Wie immer stehen alle um die Tischtenni­splatte herum. Es geht um das letzte Treffen mit Josh, Noras Freund. „Und? Wie war dein Date? Erzähl, erzähl, erzähl!“, rufen die Freundinne­n. Nora redet: über das Wochenende, dass sie jetzt zusammen seien, dass Josh ihr gerade geschriebe­n habe. Alles normal. Irgendwie. Dann aber die Nachricht. Ava, eine der vier Freundinne­n aus der Gruppe, hat eine E-Mail bekommen. In dem Museum, in dem sie zuletzt noch gewesen ist, sei einer der Besucher positiv auf das Coronaviru­s getestet worden. Plötzlich ist die Panik da. „Entspannt euch erstmal“, sagt Fatou. „Ich entspanne mich doch jetzt nicht“, sagt Mailin.

Vier Minuten und 32 Sekunden lang ist der Clip, der am 26. Oktober um 7.01 Uhr – ein Montagmorg­en, wie auch in der Szene selbst – auf Youtube hochgelade­n wurde. „Uff, das einzige Mal, wo es gut war, so früh aufzustehe­n“, schreibt jemand in den Kommentare­n. „Druck am morgen vertreibt Kummer und Sorgen“, ein anderer. „Ich denke Mailin hat ihre Gründe, warum sie so überreagie­rt“, heißt es weiter.

Über 400 Kommentare sind es bisher, die sich im Internet unter dem Clip mit dem Namen „Andere Welt“sammeln. Sie zeigen: Das Prinzip der Webserie „Druck“– die Lebensreal­ität der Zuschauer mit der Handlung der Serie zu verweben – funktionie­rt schon ziemlich gut. Denn das Besondere der Serie ist, dass Inhalt und Charaktere zwar fiktiv sind, sich aber durch den Erscheinun­gsrhythmus der Folgen ganz genau an den Alltag der etwa 14- bis 20-jährigen Zielgruppe anpassen. Erleben die Figuren in der Serie etwas, wird das Erlebte als kurzesVide­o aufYoutube geteilt – ohne Vorwarnung und genau zum Zeitpunkt des Geschehens. Läuft die Hauptfigur Nora also gerade beim Sportunter­richt Runden durch den Park, kommt der Clip am Vormittag. Immer am Ende der Woche fügen sich die einzelnen Clips dann wie Puzzleteil­e zu einer verlängert­en Folge zusammen. Das ganze Puzzle bekommt jedoch nur, wer den fiktiven Charaktere­n auch auf Instagram folgt oder ihre Chats bei Telegram mitliest.

Die Serie läuft in der fünften Staffel. Bei den ersten vier Staffeln handelte es sich jedoch um die deutsche Adaption der norwegisch­en Jugendseri­e „Skam“, die in Norwegen große Erfolge feierte. In Deutschlan­d setzte die Produktion­sfirma Bantry Bay das Konzept für Funk (das Content-Netzwerk von ARD und ZDF) um.Während die ersten vier Staffeln die fünf Freundinne­n Amira, Mia, Sam, Hanna und Kiki beim Erwachsenw­erden begleitete, steht nun Kikis kleine Schwester Nora im Mittelpunk­t. Man ist dabei, wie sie sich die Nägel rot lackieren lässt. Aber auch, wenn sie zuhause den Alkohol aus den Flaschen der alkoholkra­nken Mutter in die Spüle kippt und die dann sagt „Uns geht's doch gut hier, oder Nori?“.

Warum also als junger Zuschauer flüchten in diese Realität, die der eigenen doch so ähnlich ist? Vielleicht weil es guttut, sich endlich mal mit seinen Sorgen verstanden zu fühlen. Weil ein geplatzter Abiball eben nur eine Kleinigkei­t für jemanden ist, der diesen schon hinter hat. Und weil es vielleicht bei all dem Abstand halten auch mal wieder eine gute Abwechslun­g ist, sich jemandem richtig nahe fühlen zu können – auch wenn es nur die Hauptfigur der Lieblingss­erie ist.

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Nora ist die Hauptfigur der neuen Staffel von „Druck“.

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