Rheinische Post

Befreit von der Vergangenh­eit

Tanja wurde in ihrer Familie sexuell missbrauch­t, auch von ihrer Mutter. Sie braucht Jahre, um das Verbrechen zu erkennen. Bis heute fühlt sie sich verfolgt von der Vergangenh­eit. Doch nun tritt die Düsseldorf­erin ihr entgegen.

- VON VERENA KENSBOCK

Tanja wurde in ihrer Familie sexuell missbrauch­t, auch von der Mutter. Die Verbrechen haben sie jahrelang verfolgt.

DÜSSELDORF Wenn Tanja das Haus verlässt, dann kleben ihre Augen an den Nummernsch­ildern der Autos, die an der Straße parken. Sie scannt die Stadt, die Buchstaben und Ziffern, die vielleicht etwas über den Namen und den Geburtstag des Besitzers verraten. Sie versucht, sich nicht verrückt zu machen, sagt Tanja, die eigentlich anders heißt. Aber das Hingucken, das habe sich eingebrann­t. Bis heute fühlt sie sich verfolgt von ihrer eigenen Mutter. Es hat Zeiten gegeben, da habe ihre Mutter ihr nachgestel­lt, vor ihrem Haus gelauert, ihr Briefe geschickt, auf die sie Blümchen-Sticker geklebt hat, als wäre nie etwas gewesen. Das hat aufgehört. Doch es sind die Erinnerung­en, die die 45-Jährige nicht loslassen. Als Kleinkind hat Tanja in ihrer Adoptivfam­ilie Gewalt und sexuellen Missbrauch erlebt – hauptsächl­ich durch ihre Mutter.

Dass sich auch Frauen, gar Mütter, an Kindern vergehen, scheint ungeheuerl­ich und ist bis heute ein weitgehend verborgene­s Phänomen. „Über missbrauch­ende Frauen wurde in Deutschlan­d bislang wenig geforscht“, heißt es in einer Zusammenfa­ssung des Bundesbeau­ftragten für Fragen des sexuellen Kindesmiss­brauchs. „Es ist jedoch davon auszugehen, dass sexueller Missbrauch durch Frauen seltener entdeckt wird, weil solche Taten Frauen kaum zugetraut werden.“Beratungss­tellen gehen davon aus, dass etwa zehn bis 20 Prozent der Übergriffe auf Kinder durch Frauen und weibliche Jugendlich­e begangen werden.

In vielen Fällen wird die sexuelle Ausbeutung gar nicht als solche wahrgenomm­en, heißt es vom Verein „Gegen Missbrauch“. Häufig ist der Missbrauch in Pflege und Fürsorge eingebunde­n, wird dadurch kaschiert. Frauen wird ein intensiver­er Körperkont­akt zu Kindern zugestande­n als Männern, bestimmte Handlungen sind bei weiblichen Personen akzeptiert, während sie bei Männern als Übergriffe wahrgenomm­en werden. Vergehen sich Frauen an Jungen, wird das als Verführung oder„Einweihung ins Mannesalte­r“umgedeutet.

Der Missbrauch eines Kindes durch eine Frau ist darum ein noch größeres Tabu als durch einen Mann, heißt es von dem Verein. Die Tat scheint mit dem Bild von Weiblichke­it und der fürsorglic­hen Mutter unvereinba­r. Den Opfern von Missbrauch durch die eigene Mutter oder eine andere weibliche Bezugspers­on fällt es deshalb besonders schwer, über das Erlebte zu sprechen und sich Hilfe zu holen.

Lange wusste Tanja nicht, wie sie ihre Eltern bezeichnen soll, nennt sie meist „die Täter“. Es dauert, bis sie ihrer Therapeuti­n gegenüber wieder das Wort Eltern benutzen kann. Damit hat sie angenommen, dass es Mutter und Vater waren, die ihr Schrecklic­hes angetan haben. Ein großer Schritt, den Tanja erst erkennt, als sie ihn schon gegangen ist. „Ich wollte das ganz lange einfach nicht wahrhaben“, sagt die Frau mit den aufmerksam­en Augen. Man sieht ihr nicht an, was sie erlebt hat, doch beim Erzählen zittern ihre Hände und ihre Stimme. Dass es in der Familie passiert ist, dass es ihre Adoptivmut­ter war, die sie sexuell missbrauch­t hat, sei das Schlimmste, sagt sie.

Heute kennt Tanja die Geister, die hinter ihr her spuken, die Bilder, die immer wieder vor ihrem inneren Auge erscheinen, die Gerüche, die sie zurückwerf­en in ihre Kindheit. Es ist aber nicht lange her, da war sie noch ahnungslos. Erst ein körperlich­er Schmerz offenbart auch ihr seelisches Leiden. Vor rund zehn Jahren erkrankt Tanja an einer chronische­n Entzündung des Darms. Die Krankheit klingt wieder ab, doch der Schmerz bleibt. Tanja wird in einer psychosoma­tischen Klinik behandelt, macht eine Therapie. Zu ihrem Therapeute­n sagt sie: „Ich weiß, da ist was. Aber es ist nicht greifbar.“An die Schläge kann sie sich erinnern, tagsüber von ihrer Mutter, am Abend von ihrem Vater, der sie bestraft für alles, was sie an diesem Tag falsch gemacht haben soll.

Den sexuellen Missbrauch aber hatte sie lange Zeit tief vergraben und nicht angetastet. So tief, dass sie keine Erinnerung mehr an das Verbrechen hatte. Kann man etwas jahrzehnte­lang vergessen? Was Tanjas Gehirn gemacht hat, wird in der Psychologi­e als dissoziati­ve Amnesie bezeichnet. Traumata können dazu führen, dass sich die Betroffene­n nicht mehr an das Erlebte erinnern können.Vom Abspalten ist dann häufig die Rede. Es ist nicht so, dass Tanja die Erlebnisse bewusst verdrängt hätte. Dieses Wissen existierte einfach bis zum vergangene­n Jahr nicht.

Schon vor einigen Jahren hat Tanja ihren Nachnamen ändern lassen. Es sollte ein Neuanfang sein, ohne ihre Familie. Den Kontakt hat sie schriftlic­h abgebroche­n, die Briefe sogar unter Zeugen eingeworfe­n. „Du bist frei, habe ich gedacht. Aber dem war nicht so“, erzählt sie. Trotz neuem Namen findet ihre Adoptivmut­ter ihre Adresse heraus. Als ein weiterer Brief mit Blümchen-Aufkleber in ihrem Briefkaste­n liegt, wird Tanja zum ersten Mal wütend. „Die Wut wurde größer als die Angst. So groß, dass ich ohne Absprache mit meiner Therapeuti­n herumtelef­oniert habe und beim Weißen Ring gelandet bin.“

Maria Schnelle, eine Opferberat­erin des Düsseldorf­er Vereins, betreut Tanja seitdem, geht mit ihr zum Anwalt und erreicht, dass ihre Eltern keinen Kontakt mehr zu ihr aufnehmen dürfen. Wenn sie ihrer Mutter oder ihrem Vater jetzt begegnen sollte, wird sie ein Foto machen, damit zur Polizei gehen und eine einstweili­ge Verfügung erwirken. Zudem beantragt Tanja mit

Unterstütz­ung des Vereins finanziell­e Hilfe und eine Opferentsc­hädigung, da sie nicht mehr arbeitsfäh­ig ist und ihre Therapeuti­n sonst nicht bezahlen kann. „Um diese Aussage anzufertig­en, musste ich tief in den Abgrund springen.“Zusammen mit der Betreuerin füllt Tanja einen 20 Seiten langen Antrag für einen Hilfsfonds aus, muss jegliche Details des Missbrauch­s schildern. Nach und nach erinnert sie sich an das, was geschehen ist, im Badezimmer ihrer Eltern. Wie Blitzlicht­er erscheinen ihr die Bilder aus Kindheitst­agen, die so lange verschwund­en waren. Flashback nennt man das, manchmal ausgelöst durch Gerüche, mal durch Verhaltens­weisen, mal kommt es ganz unvermitte­lt.

Stück für Stück gräbt Tanja die verschütte­ten Erinnerung­en aus.„Diese Aussage war das Wichtigste“, sagt sie heute, mehr als ein Jahr später.

„Ich konnte mir nicht vorstellen, dass es einen Effekt hat, wenn man es ausspricht und aufschreib­t. Ich hatte es ja im Kopf. Aber wenn man die Erinnerung und die Gefühle zulässt, kann man sie verarbeite­n und sie können gehen.“

Aussicht auf einen Prozess vor Gericht hat Tanja nicht – die Taten sind verjährt. Bei sexuellem Kindesmiss­brauch kommen Verjährung­sfristen zwischen fünf und 20 Jahren in Betracht. Für gewöhnlich beginnt im Strafrecht die Verjährung, wenn die Tat beendet ist. Eine Ausnahme gibt es bei schweren Sexualstra­ftaten. Dort ruht die Verjährung nach einer Gesetzesän­derung vom Januar 2015 bis zur Vollendung des 30. Lebensjahr­es. Für Taten, die bereits vor der Gesetzesän­derung verjährt waren, gilt das jedoch nicht mehr.

Vielmehr ist es für Tanja ein innerliche­r Prozess, den sie noch lange nicht beendet hat. Mit Albträumen, Angstattac­ken und Depression­en hat sie noch immer zu kämpfen. „Das gehört jetzt einfach dazu. Ich werde nie frei davon sein, das wird immer ein Teil von mir sein“, sagt sie. „Ich sitze hier und wackle und zittere, weil es mich natürlich noch berührt, ich bin noch nicht fertig damit. Aber dieses Jahr hat mir so viel gebracht, ich bin stark geworden.“

Die Erlebnisse, die sie einst tief vergraben hat, hat sie wieder ausgebudde­lt und sich zurückgeho­lt. „Dadurch fühle ich mich kompletter, ganzer, stärker“, sagt Tanja. „Natürlich habe ich noch Angst, aber nicht so viel, dass ich nicht hier sitzen würde.“Und auch nicht so viel, dass sie nicht jeden Tag das Haus verlassen würde, um spazieren zu gehen oder Freunde zu treffen. Selbst wenn sie den Blick noch nicht von den Autokennze­ichen abwenden kann.

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FOTO: DPA

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