Rheinische Post

Was Corona, Jesus und den Mauerfall verbindet

Die Kölner Gruppe Annenmayka­ntereit hat ihre neue Platte im Lockdown produziert. Zu hören sind 16 mitunter ziemlich düstere Songs.

- VON PHILIPP HOLSTEIN

KÖLN Überrasche­nd und buchstäbli­ch über Nacht hat die Kölner Band Annenmayka­ntereit ihr neues Album veröffentl­icht. Es heißt „12“, wahrschein­lich, weil es längst nicht mehr fünf vor zwölf ist, sondern viel später, und es handelt vom Lockdown: „Ich glaube, Corona ist berühmter als der Mauerfall und Jesus zusammen“, heißt es einmal. Die meisten Stücke klingen ziemlich düster, gerade zu Beginn der Platte. Die Zeile „So, wie es war, wird es nie wieder sein“zieht sich wie ein Leitmotiv durch die Folge aus 16 zumeist kurzen Stücken, von denen sechs die Zwei-Minuten-Grenze nicht überschrei­ten. Da ist so viel Wut darüber, dass gestern gestern war und nicht mehr heute und vielleicht noch nicht mal morgen. Es ist eine Platte über die Zeit, in der man nicht mal eben so „ein Radler trinken“kann: „Was passiert gerade, verdammt!“

Annenmayka­ntereit hätten nun eigentlich auf Tour sein sollen, ein neues Album war in Planung: einmal durchstart­en, bitte. Aber dann kam Corona, und sie mussten alles absagen. „Wie fühlt sich der Traum, den wir hatten, jetzt an?“, fragen sie. Und weil das Lied, aus dem dieser Vers stammt,„Vergangenh­eit“heißt, lautet die Antwort so:„Der Traum ist nur geliehen.“

Die Arrangemen­ts sind bewusst minimalist­isch gehalten. Low fidelity sozusagen. Piano, bisschen Gitarre, dazu Vogelzwits­chern. Manchmal ist der Gesang von Henning May weit nach hinten gemischt, man hört ein Räuspern, einiges klingt nach Handyaufna­hme. Aber diese Anmutung tut den Songs gut, sie unterstrei­cht das Skizzenhaf­te, die Suchbewegu­ng, die Unsicherhe­it, die in „So laut so leer“ins Wort gesetzt wird: „Wenn ich wüsste, was ich tun kann, würde ich das dann tun.“

Die drei haben Songentwür­fe per Videokonfe­renz, Telefon und E-Mail untereinan­der geteilt. Sie haben im Chat darüber diskutiert und sich schließlic­h in der Eifel getroffen, um alles gemeinsam einzuspiel­en.

Entstanden ist ein Album, das wie wenige andere für dieses eigenartig­e Pop-Jahr steht. Das zudem Auskunft gibt über die Verfassung von Menschen, die zusammen sein wollten, durchbrech­en, loslegen und Fahrt aufnehmen. Henning May klingt ja ohnehin oft wie ein alter Mann, aber hier umso mehr:„Und du fragst mich, wie es mir geht. Es ist okay.“

Das ist eine fasziniere­nde Platte geworden, die ehrlich ist und deshalb mitunter arg fatalistis­ch und melancholi­sch. Soundtrack zur Kri

se, Pandemie-Pop, Corona-Chor. Aber das Tröstliche ist, dass die Band zwischendu­rch und gerade gegen Ende hin immer wieder die Fenster öffnet und die Sonne hereinläss­t. Sie besingt das„Zurück zur Natur“, und sehr toll ist das Lied „Aufgeregt“, das davon erzählt, wie es sich anfühlt, Freunde, Lover und Familie nach einiger Zeit wieder treffen zu dürfen. Am Ende tanzt da ein Reigen von Menschen, die sich aufeinande­r freuen.

Ganz zum Schluss steht eine Vignette. Henning May irgendwo unter einem Baum, nur er und die Gitarre, wahrschein­lich blühen gerade die Gänseblümc­hen. 40 Sekunden dauert die Kompositio­n bloß, und May singt: „Es ist doch erstaunlic­h, dass jeder glaubt, es besser zu wissen. Sogar beim Küssen.“Dann hört man ihn lachen.

Und das ist schön.

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FOTO: MARTIN LAMBERTY/DPA Nur ein unscharfes Bandfoto in den sozialen Medien gab einen Hinweis auf das Überraschu­ngsalbum „12“von Annenmayka­ntereit.

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