Die „Todesfuge“– ein Jahrhundertgedicht
Vor 100 Jahren wurde der Dichter Paul Celan geboren, dessen Werk in Deutschland selten die verdiente Anerkennung fand.
PARIS Man hat es ein Jahrhundertgedicht genannt, um es in seiner Bedeutung, seiner Undurchdringlichkeit und poetischen Faszination irgendwie greifen zu können. Doch natürlich entzieht sich die „Todesfuge“all dem, dieses lange Poem von Paul Celan, das mit großer Suggestion anhebt: „Schwarze Milch der Frühe wir trinken sie abends / wir trinken sie mittags und morgens wir trinken sie nachts / wir trinken und trinken“. Für Paul Celan, der vor 100 Jahren geboren wurde und sich vor 50 Jahren in Paris das Leben nahm, ist das Gedicht auch Ausdruck seines Lebens: Das Dokument eines Juden aus Czernowitz, der dem Holocaust entkommt, dem die Sprache Zuflucht wird, dem Anerkennung immer wieder versagt bleibt und dem – zerrissen von den Traumata des Erlebten – der Mut zum Weiterleben schließlich fehlt.
Die „Todesfuge“ist eins der ersten Gedichte über den Holocaust, das am Anfang des Jahres 1945 entsteht und sieben Jahre später erstmals in deutscher Sprache erscheint. Das Gedicht ist also geschrieben, noch bevor der Philosoph Theodor W. Adorno sein berühmt-berüchtigtes Diktum verkünden kann, dass es„barbarisch“sei, nach Ausschwitz ein Gedicht zu schreiben. Leere Worte angesichts der „Todesfuge“mit ihrem berühmten und vielzitierten Vers: „Der Tod ist ein Meister aus Deutschland.“
Die Zeit scheint Anfang der 50er-Jahre nicht reif zu sein für dieses Gedicht. Im deutschen Wiederaufbaueifer kommt vielmehr eine Unfähigkeit zu Trauern zum Ausdruck, wie es die Psychoanalytikerin Margarete Mitscherlich später beschreiben sollte. Abwehr dominiert die Haltung vieler – bis in intellektuelle Kreise hinein. Zum ersten Mal liest Celan die„Todesfuge“1952 vor den Schriftstellern der Gruppe 47. Die trifft sich in Niendorf, einem verschlafenen Fischerdorf an der Ostsee. Celan trägt mit Pathos vor und fällt auch deshalb gnadenlos durch. Man lacht sogar. Und einer soll gesagt haben: Der liest ja wie Goebbels. Celan wird gebeten, die Tagung zu verlassen, doch er bleibt.
Die „Todesfuge“wird er später kaum noch vorlesen, zu tief, zu verstörend auch sind die Verletzungen, die ihm wieder zugefügt wurden. Und sie verfolgen ihn noch im Augenblick seines literarisch größten Triumphs: Als man ihm 1960 den Büchner-Preis verleiht, wird er des Plagiats verdächtigt.
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