Das diffuse Bild der Corona-Zahlen
Die hohen Zahlen der Neuinfektionen haben die Experten überrascht. Der derzeitige Lockdown wirkt offenbar nicht richtig. Aber mehr staatlicher Zwang wäre jetzt der falsche Weg, warnen viele Wissenschaftler.
Die Rolle der Kassandra spielt derzeit keiner so überzeugend wie Lothar Wieler, der Präsident des Robert-Koch-Instituts (RKI). Weil die Zahlen der Neuinfektionen trotz des Shutdowns einfach nicht sinken wollen, warnte Deutschlands oberster Virus-Bekämpfer am Donnerstag: „Wir sind noch lange nicht über den Berg.“Am Freitag erreichte die Zahl der Neufälle mit 23.648 wieder einen Höchststand. An Lockerungen ab Dezember sei nicht zu denken, heißt es in der nordrhein-westfälischen Staatskanzlei. Im Interview mit „Stuttgarter Zeitung“und „Stuttgarter Nachrichten“denkt Ministerpräsident Armin Laschet (CDU) sogar über weitere Kontaktverschärfungen nach.
Tatsächlich stehen die Wissenschaftler derzeit vor einem Puzzle. Nach den Simulationsrechnungen der meisten Institute müssten die Infektionen schon jetzt deutlich nach unten gehen. „Die Zahl der neuen Fälle hätte modellhaft stärker sinken müssen, wenn die Shutdown-Maßnahmen zur erwarteten Kontaktreduktion geführt hätten“, fasst der Mathematiker Jan Fuhrmann den Stand der Erkenntnisse zusammen. Er rechnet für das Forschungszentrum Jülich regelmäßig Simulationen zur Corona-Pandemie.
Dass sich die Zahl der Neufälle noch immer auf einem so hohen Niveau befindet, könnte eine ganze Reihe von Gründen haben. Da Corona-Tests knapp sind, werden sie viel gezielter eingesetzt als in derVergangenheit. Die Gesundheitsämter versuchen, die Infektions-Cluster herauszufinden und vor allem dort zu testen. „Man hat vielleicht einfach mehr Fälle erwischt“, glaubt Fuhrmann.
Außerdem bestand seitWochen ein erheblicher Teststau.
Weil die Zahl der Fälle stark anzog, kamen die Labors mit den Testungen nicht mehr nach. Erst in jüngster Zeit werden sie abgearbeitet und positive Fälle an das RKI gemeldet. In den Lageberichten des Instituts wird deshalb nach gemeldeten Fällen und dem Erkrankungsbeginn unterschieden. Die Daten mit den erkennbaren Symptomen bilden den Verlauf genauer ab. Nachteil: Sie sind ein Spätindikator, denn zwischen Infektion und Krankheitsbeginn vergehen laut RKI in der Regel fünf bis sechs Tage.
Die Forscher arbeiten am liebsten mit den bereinigten Daten, die das Berliner Institut bereitstellt. Das sind die Nowcasting-Zahlen, in denen der Melde-, Diagnose- und Übermittlungsverzug herausgerechnet werden. Danach wuchs die Zahl der Neuinfektionen bis zum 12. November deutlich und sinkt derzeit wieder. Der Alarm des RKI-Präsidenten ist deswegen nicht ganz berechtigt.
Immerhin gibt auch sein Institut zu, dass trotz der Rekordzahlen die Dynamik eines weiteren Anstiegs des Zahlen gebrochen sei. Das kommt im Reproduktionswert zum Ausdruck, der misst, wie viele Neuansteckungen durch Infizierte im Schnitt der vergangenen sieben Tage erfolgen. Der R-Wert liegt derzeit unter eins, nach den Zahlen vom Freitag bei 0,99. Das heißt, 100 Infizierte stecken weitere 99 an. Das ist nicht schön, aber es fehlt das exponentielle Wachstum. Die Kliniken müssen nicht ständig fürchten, dass ihre Intensivbetten nicht ausreichen. Bei 3600 Covid-19-Patienten in Intensivpflege sind rund 6000 Betten noch frei. Trotzdem gibt es keinen Anlass zur Entwarnung. Als sicher gilt schon jetzt, dass es nicht zu deutlichen Lockerungen kommen darf. Laut Medienberichten denken die Ministerpräsidenten bereits über eine Schließung der Restaurants und kultureller Einrichtungen bis zum 20. Dezember nach.
Die meisten Experten wünschen eine weitere Reduzierung der Kontakte, die als Hauptübel für die Verbreitung des Coronavirus gelten. Vor allem die Beschränkung auf einen Freund oder Freundin für Kinder und Jugendliche sowie höchstens zwei weitere Personen aus einem anderen Haushalt findet die Zustimmung der Wissenschaftler. „Ich hätte mir gewünscht, dass diese sinnvollen Maßnahmen der weiteren Kontaktbeschränkung besser kommuniziert worden wären“, sagt Gerd Fätkenheuer, Leiter der Infektiologie des Uniklinikums Köln.
Solche Ziele können aber nach Ansicht vieler Mediziner nicht mit Zwang erreicht werden. „Im privaten Bereich sind wir auf die Motivierung und Mitwirkung der Bevölkerung angewiesen. Hier kann der Staat wenig machen“, sagt Martin Exner, der Präsident der Deutschen Gesellschaft für Krankenhaushygiene, der auch am Institut für Hygiene der Uniklinik Bonn tätig ist. Abstand halten, Masken tragen und Hände desinfizieren seien weiterhin die wichtigsten Waffen gegen die Pandemie. „Und wir benötigen eine hochmotivierte Bevölkerung, die mitzieht“, sagt Exner.
Auch andere Spezialisten warnen vor zu viel Zwang. „Wichtig ist, dass die Empfehlungen sowohl im privaten als auch im öffentlichen Raum eingehalten werden“, sagt Jörg Timm, Direktor des Instituts für Virologie am Uniklinikum in Düsseldorf. Wenn jetzt Kontakte im Freien stärker beschränkt würden, könnten viele in die eigenen vier Wände ausweichen. „Falls sich viele Personen in privaten Räumen statt im Freien treffen, ist das Infektionsrisiko sogar eher höher“, warnt der Virologe. Es kommt auf die richtige Mischung zwischen Vorschriften und Appellen an. Die Wohnung sollte tabu bleiben. Hier verlaufen die roten Linien. Sonst könnten autoritäre Tendenzen in der Pandemie-Bekämpfung Einzug halten. Im Freien könnte die Personenanzahl für Gruppen trotz mancher Expertenwarnung noch kleiner sein, wenn dafür Veranstaltungen mit einem klaren Hygiene- und Infektionsschutzkonzept wieder freigegeben würden. Dann könnten auch Restaurants wieder öffnen, die sich ihren Krankheitsschutz zertifizieren lassen. Wieder steht die Politik vor einer schwierigen Abwägung – bei einem reichlich diffusen Zahlenbild.
„Die Zahl der neuen Infektionen hätte modellhaft stärker sinken müssen“Jan Fuhrmann Forschungszentrum Jülich