Deutsche Krieger
Der Staatsbürger in Uniform in der neuen Armee der Bundesrepublik sollte nichts mehr mit der Wehrmacht zu tun haben. Die Untersuchung eines renommierten Militärhistorikers kommt nun zu anderen, verstörenden Erkenntnissen.
Ein pralles 800-Seiten-Buch des Potsdamer Militärhistorikers Sönke Neitzel (52) hat Unruhe ausgelöst – weil es ein Frontalangriff auf das militärische Selbstverständnis der Bundesrepublik ist. Neitzel zitiert darin gleich zur Eröffnung den Satz der damaligenVerteidigungsministerin Ursula von der Leyen: „Die Wehrmacht ist in keiner Weise traditionsstiftend für die Bundeswehr.“Und er hält dem entgegen:„DieWehrmacht steckte von Anfang an in der DNA der Bundeswehr, und man kam auch im 21. Jahrhundert nicht ganz von ihr los.“
Das ist nicht schnell dahergesagt. Neitzel hat sich tief in die inneren und äußeren Kämpfe des Militärs in den zurückliegenden 100 Jahren hineinbegeben, vom Kaiserreich über HitlersWehrmacht bis zum Bundeswehr-Einsatz in Afghanistan. Er kommt zu dem Schluss, dass es mehr Gemeinsamkeiten gibt als vermutet. Mit einer Fülle von Quellen – darunter allein 200 Zeitzeugen – liefert Neitzel eine Gesamtschau, die Maßstäbe setzt und aktuelle Sprengkraft besitzt.
So wussten wir, dass in den Jugoslawien-Kriegen Serben am Wochenende zum Schießen auf Muslime in die Berge von Sarajevo fuhren.Wir wussten nicht, dass sich auch Bundeswehrsoldaten dort privat Kampferfahrung verschafften. Seit 1991 hätten 200 bis 300 Soldaten vorwiegend aus Süddeutschland im Urlaub oder für ein verlängertes Wochenende auf kroatischer Seite mitgekämpft, schreibt Neitzel. „Das war zwar illegal, wurde von den Vorgesetzten in vielen Fällen aber gedeckt, da man die Eigeninitiative als wertvolle Bereicherung der Gefechtsausbildung betrachtete.“Er beruft sich auf Recherchen seiner Doktorandin Julia Dehm.
Auch in Afghanistan ging es nicht nur nach den Vorschriften zu. Jüngst hat eine australische Untersuchung ergeben, dass eine Elite-Einheit mindestens 39 Gefangene oder Zivilisten unrechtmäßig getötet hat. Von ähnlichen Praktiken der US-Amerikaner erfuhren wiederholt offenbar auch Bundeswehrsoldaten. Neitzel berichtet, es seien sogar deutsche Stabskräfte abgelöst worden, weil sie dasVorgehen der Amerikaner nicht in Einklang mit ihren Vorstellungen vom Charakter des Einsatzes bringen könnten.
„Wenn bei Operationen der amerikanischen Spezialkräfte Zivilisten auch mal im dreistelligen Bereich umkamen, nahm man das hin“– keiner habe sich mit den Amerikanern anlegen wollen, von denen die Deutschen in vielerlei Hinsicht abhängig waren. Selbst „hartgesottene Soldaten“der Eliteeinheit KSK seien erschüttert gewesen, als ihnen „Amerikaner nonchalant davon berichteten, wie sie gefangene Taliban exekutierten“. Das Verteidigungsministerium verweist auf die Vorschriften, wonach Recht und Gesetz„verbindliche Grundlage jeglichen soldatischen Handelns“seien und jeder Soldat eingreifen müsse, wenn er Zeuge von Menschenrechtsverletzungen werde, ganz zu schweigen von der Meldepflicht. Aber leider reichten die elektronischen Auswertungen wegen des Datenschutzes nur bis 2016 zurück, sodass es keine Erkenntnisse zu Neitzels Schilderungen gebe. Es könne nicht ausgeschlossen werden, dass es Meldungen und disziplinarische Konsequenzen gegeben habe.
Damit dürfte sich die Politik nicht zufriedengeben. Grünen-Verteidigungsexperte Tobias Pflüger kündigte an, das Ministerium zum Thema „Lage in den Einsatzgebieten“zu fragen, wie es mit den Erkenntnissen umgehe. Für FDP-Bundeswehrexpertin Marie-Agnes Strack-Zimmermann steht fest: Jeder Soldat kenne den Umgang mit Gefangenen. Und für SPD-Verteidigungsfachmann Fritz Felgentreu gibt es eine Konsequenz aus dem Buch: „Wenn Straftaten begangen worden sind, muss die Staatsanwaltschaft tätig werden.“
„Wenn Zivilisten auch mal im dreistelligen Bereich umkamen, nahm man das hin“
Sönke Neitzel Militärhistoriker, über US-Armee und Bundeswehr in Afghanistan
Die brisanten Zeilen machen nur einen winzigen Teil von Neitzels Buch aus. So detailliert, wie er Ausbildung, Ausrüstung, Stimmung und Feldzüge der Wehrmacht und der Reichswehr beschreibt, zeichnet er die Entwicklung von Bundeswehr und NationalerVolksarmee der DDR nach. Er beschreibt, wie es in der Bundeswehr ständig drunter und drüber ging. Am Anfang, als eine riesige Armee in viel zu kurzer Zeit mit viel zu wenig Personal aus dem Boden gestampft werden musste. Und nach derWiedervereinigung, als die Bundeswehr regelrecht kaputtgespart wurde – bis heute ist sie nicht wieder wirklich verteidigungsfähig geworden.
Hätte Wladimir Putin 2014 nicht nur die Krim annektiert, sondern – wie befürchtet – auch das Baltikum besetzt, wäre der Bundeswehr nur das Zuschauen übriggeblieben. Neitzel glaubt noch nicht daran, dass der Fahrplan, bis 2032 wieder funktionierende Streitkräfte zu haben, wirklich eingehalten wird.
Nachhaltig wirkt seine Schilderung der Geschehnisse in Afghanistan: wie sich die Kämpfer von politischer und militärischer Führung verraten fühlten, weil diese zu lange nicht wahrhaben wollte, dass es mit Brunnenbauen und freundlicher Ansprache nicht getan ist. Dass man sie anfangs nicht schießen ließ, ihnen die richtigen Waffen vorenthielt. Bitter wirkt Neitzels Anklage, dass die Politik zwar stets verlangte, die Bundeswehr solle sich Vorbilder in den eigenen Reihen und nicht bei derWehrmacht suchen, dass aber die Gefallenen in Afghanistan vergessen worden seien.
Ein schwacher Trost, dass Neitzel Ministerin Annegret Kramp-Karrenbauer deutlich besser bewertet als ihre Vorgänger. Aber auch für sie bleibt viel zu tun und vor allem eine Frage, die sich durch das gesamte Buch zieht: Soll die Bundeswehr ihre Aufgaben und ihre Ausbildung vom Krieg oder vom Frieden her denken? Die Frage ist auch 65 Jahre nach der Gründung der Bundeswehr unbeantwortet. Es wird also Zeit.
Das Buch Sönke Neitzel: Deutsche Krieger. Vom Kaiserreich zur Berliner Republik – eine Militärgeschichte. Propyläen, 819 S., 35 Euro.