Kammerspiel im Retro-Look
Drei Tage lang haben die Grünen auf ihrem Parteitag digital diskutiert. Nun steht das vierte Grundsatzprogramm der Parteigeschichte.
BERLIN Jeder muss mal auf die Couch. Nein, kein Gespräch mit dem Psychologen. Keine Fragen wie: Was belastet Sie besonders bei den Grünen? Dieses Sofa mit Samtbezug steht für Gleichberechtigung. Frau, Mann, Quote. Zum Auftakt macht es sich dort Robert Habeck bequem, während Annalena Baerbock fünf Meter weiter auf der kleinen kreisrunden Bühne über eine Kamera mit den 800 Delegierten zu Hause in deren Wohnstuben ist. Einen Tag später nimmt dann Baerbock in der Retro-Wohnzimmerecke dieses digitalen Grünen-Parteitags Platz, während Habeck sich im Scheinwerferlicht durch seine Rede arbeitet.
Hinter Baerbock hängen gerahmte Fotos aus jüngeren Tagen, die beide Grünen-Chefs zeigen. Seite an Seite. Die Botschaft ist klar: Zusammen sind wir stark.Wobei sie sich im Frühjahr entscheiden müssen, wer von beiden den grünen Sturm aufs Kanzleramt anführt. Es gibt aber auch gerahmte Erinnerung – an Joschka Fischer, der in Turnschuhen seinen Ministereid leistete.
Parteitagsreden unterliegen besonderen Gesetzen. Wie reagiert das Publikum? An welchen Stellen gibt es Applaus? Doch dieser Parteitag schafft für Baerbock und Habeck besondere Bedingungen. Kein Publikum, keine Zwischenrufe, kein Applaus. In der Halle ist es phasenweise unwirklich still. Das Halbdunkel mit dosierter Beleuchtung erinnert an ein Kammerspiel. Und trotzdem wollen die beiden Vorsitzenden ihre Partei mit auf eine Reise nehmen, die im besten Falle in einer Regierungsbeteiligung endet. Vorher sollen die Delegierten digital noch ein Grundsatzprogramm verabschieden, das vierte der Parteigeschichte. Habeck sagt in bester Bauleitermanier:„Mit unserem neuen Grundsatzprogramm gießen wir ein neues Fundament, um darauf 2021 ein neues Haus zu errichten.“
Es läuft nicht störungsfrei bei diesem ersten digitalen Bundesparteitag. Geräusche wie auf einem U-Boot sind zu hören, wenn sich Delegierte zuschalten. Es piept, es fiept, es ruckelt, es dauert. „Bin ich jetzt da?“, fragt Hans Schmidt vom bayerischen Kreisverband Bad Tölz-Wolfratshausen, der seinen Änderungsantrag begründen will. Brigitta Tremel vom Kreisverband Hannover ist auf dem Schirm wie hinter Milchglas zu sehen. Bildqualität wie bei Fußball-Übertragungen in den 70er-Jahren. Bei Philipp Schmagold vom Kreisverband Kiel dauert es eine Weile, bis er sein Schild für ein Tempolimit 130 in die Kamera halten kann. Stefan Gelbhaar vom Kreisverband Berlin-Pankow ist zwar gut zu sehen, aber leider nicht zu hören.
Die Abstimmungen sind langwierig, immer wieder muss getestet werden. Im Netz schreibt Norbert Schellberg, Grüner aus Kleinmachnow in Brandenburg: „Wenn du die An- und Abreise für 800 Delegierte und 1000 Gäste mitrechnest, ist alles noch immer viel schneller.“
Inhaltlich wollenTeile der Basis im neuen Grundsatzprogramm ein ehrgeizigeres Klimaziel und auch mehr direkte Demokratie als derVorstand
festschreiben. Am Ende steht ein Kompromiss, ein „1,5-Grad-Pfad“, das heißt, die Grünen wollen sich nur in Richtung eines solchen Zieles bewegen. DerVorstand hat es geschafft, eine Abstimmung zu verhindern, und ist dabei auch möglichem Streit aus dem Wege gegangen. Schließlich will man sich bei sehr passablen Wahlaussichten nicht selbst ein Bein stellen. Parteichef Habeck sagt denn auch: „Nie waren die Grünen geschlossener. Unser Zuspruch gründet sich darauf, dass wir ein neues politisches Verständnis für eine neue Zeit verkörpern.“Erstmals kämpfe „eine dritte Partei ernsthaft um die Führung dieses Landes“. Vielleicht ein hoher Anspruch, ein kühner und frecher zugleich, weiß Habeck. „Aber wenn es stimmt, dass eine neue Zeit neue Antworten erfordert, dann stellen wir uns diesem Anspruch.“Macht sei früher „in unserem Kosmos oft ein Igitt-Begriff“gewesen, so Habeck. Aber Macht komme ja von machen. Und das wollen sie – spätestens ab 2021 im Bund: Macht und machen.