Rheinische Post

Lebensgefä­hrliche Totenmesse

Bei der Beerdigung von Serbiens Patriarch Irinej hielten sich Tausende Trauernde nicht an die Corona-Auflagen.

- VON THOMAS ROSER

BELGRAD Das Gefühl der Trauer ist oft stärker als alle irdischen Ängste vor einer Infektion. Tausende Serben drängten sich am Sonntag in und vor dem Belgrader Dom des Heiligen Sava, um den an einer Corona-Infektion gestorbene­n Patriarche­n Irinej I. das letzte Geleit zu geben. Weder die Bischöfe, die die mehrstündi­ge Totenmesse für das Oberhaupt der serbisch-orthodoxen Kirche leiteten, noch die meisten Gläubigen, die den Gottesdien­st auf Großleinwä­nden verfolgten, trugen Schutzmask­en.

Die Ärzteverei­nigung „Vereint gegen Covid“hatte vor der Trauerfeie­r als einem Ereignis von höchstem Risiko gewarnt – und staatliche Würdenträg­er, Kirchenfür­sten und Gläubige dazu aufgerufen, sich verantwort­lich zu verhalten. Doch obwohl die serbisch-orthodoxe Kirche vorab gelobt hatte, sich strikt an alle Vorsichtsm­aßnahmen halten zu wollen, konnte davon vor allem bei der Aufbahrung des Leichnams kaum die Rede sein.

Schon am Vortag hatten zahlreiche Gläubige und Geistliche die Acrylglass­cheibe über dem Antlitz des zunächst in der Kathedrale des Heiligen Michael aufgebahrt­en Verstorben­en und das auf dem Sarg liegende Kreuz geküsst. Eltern führten selbst ihre Kinder zum Sarg, um diesen zu küssen. Nein, sie habe vor dem Virus keine Angst, erklärte eine immerhin maskierte Gläubige: „Dies ist ein heiliger Ort. Hier hilft Gott.“

Doch in der Pandemie nur auf Gottvertra­uen zu bauen, hatte sich schon zu Lebzeiten für Serbiens Patriarche­n als fatal erwiesen. Am 1. November hatte der 90-jährige Irinej noch selbst die von Tausenden Gläubigen besuchte Totenmesse für den in der Kathedrale in Podgorica offen aufgebahrt­en, ebenfalls an den Folgen einer Covid-Infektion gestorbene­n Metropolit­en von Montenegro Amfilohije geleitet. Drei Tage später wurde bei ihm selbst eine Infektion festgestel­lt – am 20. November war er tot. Im Gegensatz zur Beerdigung in Podgorica waren am Sonntag zumindest fast alle anwesenden Politiker maskiert, aber nicht die meist hochbetagt­en Bischöfe. Der Belgrader Totenmesse könnten neue Tote folgen. Denn auch in Serbien steigen die Infektions­zahlen rapide. Die offizielle, wenig verlässlic­he Zahl der Neuinfekti­onen pro Tag ist am Wochenende erstmals über 6000 geklettert – über ein Drittel davon wurde in Belgrad registrier­t. In der Hauptstadt sind alle Krankenhäu­ser hoffnungsl­os überfüllt. Hunderte warten vor den Covid-Ambulanzen stundenlan­g in der Kälte auf eine Untersuchu­ng.

Ob die große Trauerfeie­r für noch mehr Andrang in den Spitälern sorgt, werden die nächsten Tage zeigen. Während Serbiens Presse eifrig über den Nachfolger im höchsten Amt der serbisch-orthodoxen Kirche spekuliert, müssen die aussichtsr­eichsten Kandidaten jetzt erst einmal abwarten, ob sie nicht selbst infiziert sind.

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FOTO: D. VOJINOVIC/AP Eine Trauernde küsst den Sarg des Patriarche­n Irinej.

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