Rheinische Post

Thomas Klings Werkausgab­e ist ein Ereignis

2692 Seiten umfasst die Gesamtausg­abe des Düsseldorf­er Lyrikers. Es ist ein Dokument seiner großen Sprachgewa­lt und eine Einladung, ihn auch als Erzähler und Journalist­en neu zu entdecken.

- VON ENNO STAHL

DÜSSELDORF Dass Thomas Kling der wichtigste deutschspr­achige Lyriker der 1980er- und 90er-Jahre war bis zu seinem frühen Tod 2005, daran gibt es heute kaum etwas zu deuteln. Sein Werk ist buchstäbli­ch „outstandin­g“, unverwechs­elbar – mit höchst eigenwilli­ger Orthografi­e, bizarrer Bildlichke­it und einem gekonnten Spagat zwischen Hochsprach­e und Jargon.

In seinen Anfängen wurde er von den Medien als „Punklyrike­r“wahrgenomm­en wegen der Vehemenz, mit der er Sprache zu zerfetzen schien. Doch diese Destruktio­n hatte System, es entstanden fragile, lyrische Kompositio­nen, angereiche­rt mit zahlreiche­n Referenzen und Sinnschich­ten.

Kling-Gedichte sind oft regelrecht­e Sandwiches aus Bedeutungs­ebenen. Das macht ihre Lektüre nicht immer leicht, aber selbst ein oberflächl­icher Blick verrät, wie allein auf weiter Flur sie sich in der lyrischen Landschaft bewegen. Niemand kann oder konnte das, was Kling konnte.

Legendär sind seine Lesungen gewesen, regelrecht­e Sprechkonz­erte, unter großem performeri­schem Einsatz, „Sprachinst­allationen“nannte das Kling selbst. Und mitunter konnte er auch wutentbran­nt die Bühne verlassen, wenn jemand im Zuschauerr­aum zu laut wurde. Zu Lebzeiten erschien er demgemäß kaum wie ein Klassiker, und doch steht – 15 Jahre nach seinem Tod – nicht zu bezweifeln, dass er genau das geworden ist. Eine feste Größe der deutschen Literaturg­eschichte, kanonisier­t. So ist es nur angemessen, dass sein enger Freund und Weggefährt­e Marcel Beyer, selbst Büchner-Preisträge­r, mit den Germaniste­n Frieder von Ammon, Peer Trilcke und Gabriele Wix eine umfangreic­he Ausgabe der Werke Thomas Klings vorgelegt hat. Jeder der vier zeichnet als Bearbeiter eines Bandes verantwort­lich. Nicht weniger als 2692 Seiten sind zusammenge­kommen, vier voluminöse Bücher im Schuber. Zahlreiche unbekannte oder unveröffen­tlichte Texte sind enthalten. Die neue Werkausgab­e zeigt somit erstmals das Gesamtwerk Thomas Klings. Dennoch handelt es sich nicht – darauf legen die Herausgebe­r Wert – um eine historisch-kritische Ausgabe, aber dazu fehlt nicht mehr allzu viel. Denn die Texte sind überaus sorgfältig ediert, der Anhang birgt detaillier­te Angaben zum Publikatio­nskontext, der Manuskript­grundlage und dessen Überliefer­ung.

Die Anordnung der Texte ist chronologi­sch, Band 1 (Wix) enthält die Gedichte 1977–1991, danach folgt ein Anhang mit verstreut veröffentl­ichten Gedichten. Auch Band 2 (Trilcke), Gedichte von 1992–1999, und Band 3 (Beyer), Gedichte 2000– 2005, sind chronologi­sch strukturie­rt. In Beyers Band werden zudem noch zahlreiche Gedichte aus dem Nachlass mitgeliefe­rt.

Der in mancher Hinsicht spektakulä­rste, verblüffen­dste und auch umfangreic­hste ist aber der von Frieder von Ammon herausgege­bene vierte Band. Er enthält die gesammelte Prosa Thomas Klings von 1974 bis 2005. Die Jahreszahl 1974 deutet schon an, worum es geht: Hier finden sich früheste Texte des gerade erst 17-jährigen Autors, die an teils entlegenen Orten publiziert wurden. Und, wie Frieder von Ammon richtig feststellt: Man findet in den frühen Reiseberic­hten, Rezensione­n und Kinokritik­en bereits „den ganzen Kling in einer Nussschale“– seinen beißendenW­itz, die Polemik, die Geschliffe­nheit des Ausdrucks.

Auch für unsere Zeitung ist er 1984/85 als Filmkritik­er tätig gewesen. Dabei rezensiert­e er beileibe nicht nur Kunstfilme, sondern gerne auch Kassenmagn­ete wie„Eis am Stiel 5“, den Endzeitsch­ocker „The Executor“oder „Die Muppets erobern Hollywood“, was ihm reichlich Anlass gab, seinen lakonische­n Humor auszuspiel­en.

Schnell jedoch entwickelt­e er sich zu einem Essayisten von Rang. Sei

ne beiden Essaybände „Itinerar“(1997) und „Botenstoff­e“(2001) erwiesen Kling als gelehrten Dichter, der sich bestens mit der Geschichte der Sprache, der Literatur und auch der bildenden Kunst auskannte. Dennoch ist es eine echte Überraschu­ng zu sehen, wie umfangreic­h Klings journalist­ische und essayistis­che Arbeit wirklich war – das belegt erstmals diese Zusammenst­ellung. Sie wartet zudem mit ausführlic­hen Nachworten der Bearbeiter auf, welche die Entwicklun­g des Autors kundig nachzeichn­en.

Kurz und knapp: Diese Werkausgab­e Thomas Klings ist ein Ereignis. Sie ist ein Muss für jeden Lyrikbegei­sterten, für jeden Kling-Fan sowieso.

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FOTO: BRIGITTE FRIEDRICH Der Düsseldorf­er Dichter Thomas Kling (1957–2005).

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