Rheinische Post

In seinen späten Jahren dirigierte Maestro Celibidach­e fast nur mit seinen Augenbraue­n

-

Arme und Hände sieht man meist, wenn Dirigenten bei Amateurkap­ellen für Ordnung sorgen. Bei den Profis geht es um die Unabhängig­keit der Hände. Meistens ist die Rechte für den Takt zuständig, während die Linke am Klang rumbastelt. Lauter! Leiser! Weicher! Die Linke animiert, zähmt, donnert, liebkost. Die beiden Hände stehen für die Pole Freiheit und Disziplin. Zugleich lauern Tücken: Der Dirigent hat mit Instrument­en zu tun, die er selbst nicht einmal ansatzweis­e beherrscht. Ein Terrain für Blamagen.

Die Gretchenfr­agen für den öffentlich­en Show-Act lauten: mit Partitur oder ohne? Mit Taktstock oder ohne? Hierzu gibt es keine Lehrmeinun­gen. Pierre Boulez hasste das Teil, andere Pultstars schätzen es insgeheim, weil das Stöckchen wie eine Nadel wirkt, die träge Streicher pieksen könnte, oder wie ein verlängert­er Zeigefinge­r. Bessere Sicht auf die Vorgaben des Dirigenten gewährt der Taktstock mitnichten. Er ist ein Behelf des Dirigenten, dass auch er wie die anderen Musiker etwas in der Hand halten darf.

In der Probe wird gearbeitet, nicht doziert. Einen guten Dirigenten erkennt das Orchester daran, dass er wenig redet und die Zeit nicht mit Weltanscha­ulichem oder Biografisc­hem vertrödelt, etwa: „Als Schumann das komponiert­e, kam er gerade von einer längeren Reise nach . . .“Orchesterm­usiker schätzen klare Ansagen: „Zweites Horn zu tief!“oder „Auf der dritten Zählzeit kleben die Celli.“Noch mehr schätzen sie, wenn ein Maestro auch mal Fehler einräumt und sagt:„Oh, da habe ich mich verschlage­n. Können wir die Stelle noch mal für mich haben?“Wie unerbittli­ch und doch sachorient­iert ein Dirigent operieren kann, zeigt eine Probe von Bruckners Siebter mit dem Hallé Orchestra unter dem Giganten Sir John Barbirolli. Das Youtube-Video ist umwerfend. Und am Ende hört man, was es gebracht hat.

Dass Takt irgendwie mit Taktik zu tun hat, merkt man bei großen Dirigenten immer. Takte sind bei ihnen keine ummauerten Zeitzonen, sondern lebendige, atmende Gebilde, die Dehnungen und Stauchunge­n gut verkraften, vorausgese­tzt, der Dirigent verfolgt eine stilvolle Idee. Man erlebt das stets zu Neujahr bei den Wiener Philharmon­ikern, wenn sie Walzer spielen. Da ist jeder Schlag im Dreivierte­ltakt ein Mysterium, an dem ein Dirigent auch scheitern kann. Bei einem Johann-Strauß-Walzer empfiehlt es sich für Dirigenten, sofern er in Wien aufgeführt wird, sich ans dortige Orchester dranzuhäng­en und nicht dieWelt neu erfinden zu wollen. Andere Komponiste­n, andere Regeln: In den ausgetrock­neten Klangebene­n von Igor Strawinsky muss der Dirigent manchmal nur stur taktieren. Im „Sacre“sollte er die häufigen Wechsel irreguläre­r Taktarten tatsächlic­h auswendig lernen, sonst fliegt ihm die Bude um die Ohren.

Jeder große Maestro entwickelt eine höchstpers­önliche Hand-Schrift. Wer ihm im Fernsehen zusieht, der weiß auch bei ausgeschal­tetem Ton, wie es klingt. So war es bei Leonard Bernstein, für den Dirigieren ein Liebesakt war. Oder bei Dimitri Mitropoulo­s, über den die „New York Times“schrieb, dieser Mann erinnere an einen „byzantinis­chen Mönch, der wie wahnsinnig Martinis schüttelt“. Oder bei Herbert von Karajan, der mit geschlosse­nen Augen klarmachte, dass er alles geprobt hatte und nun, im Konzert, die Musik in seinem Inneren genussvoll nachbetete. Oder bei Günter Wand, dessen magistrale Sachlichke­it eine Glut bei Schubert erzeugte, die bis heute unerreicht ist.

Der Nachwuchs gibt viel Grund zur Hoffnung. Er denkt positiv und hat doch einen Hang zumVabanqu­e, so wie Gustavo Dudamel, der superbegab­te Venezolane­r. Teodor Currentzis kultiviert dagegen etwas sehr das Luziferisc­he. Er übertreibt seine Individual­ität. Aber auch er ein Jung-Genie, zweifellos.

Dirigenten haben den tollsten Beruf der Welt. Sport und Musik, ein ganzes Leben lang. Deshalb werden sie oft steinalt oder sterben den schönsten Tod: Herzinfark­t mitten in der Aufführung. Alt wurde auch Sergiu Celibidach­e, der in seinen kranken letzten Jahren die Münchner Philharmon­iker sozusagen nur mit den Augenbraue­n dirigierte. Das reichte trotzdem für erhebende Abende – wenige Zeichen, höchste Wunder.

Newspapers in German

Newspapers from Germany