Die Menschen haben das Gefühl, wertvolle Lebenszeit zu verlieren Deutschland ist coronamüde
ANALYSE Das Land steckt in einem Stimmungstief. Viele Bürger haben die endlosen Debatten über das Impfen und die fehlenden Tests satt und wollen im Privatleben zur Normalität zurückkehren. Doch gerade das ist gefährlich.
Müdigkeit kann ein angenehmer Dämmerzustand sein, eine süße Belohnung nach getaner Arbeit. Ein Beinehochlegen, in die Sonne blinzeln, Fortschlummern. Müdigkeit in seiner edelsten Form kann ein vollkommenes Einwilligen ins Dasein sein. Doch was viele Menschen im Moment erleben, ist anders: Die Corona-Müdigkeit ist leer, öde und unzufrieden. Sie entsteht durch das immer Gleiche, durch zu wenig Bewegung, zu viel an Trott. Und vor allem durch das Gefühl, in einer Endlosschleife gefangen zu sein, in der sich die Debatten über Inzidenz-Grenzwerte, Impfstoffbeschaffung und Maskenprovisionen zu wiederholen scheinen. Und alles, was Hoffnung macht – sorry, Planungsfehler –, erst nächsteWoche losgehen kann.
Deutschland steckt im Zermürbungstief. Es ist enttäuscht von der Politik, enttäuscht von sich selbst. Es muss sich allerhand Fehler eingestehen, verplemperter Sommer, verschlafene Digitalisierung, und allmählich finden selbst die Geduldigen, dass Zuhausebleiben nicht mehr das Mittel derWahl sein sollte, um der Pandemie zu begegnen. Vor allem, wenn die Zahlen wieder steigen.
Wenn der Kampf gegen Corona also weiter eine gemeinschaftliche Anstrengung sein soll, in der die Bürger mitziehen, muss etwas geschehen gegen die Corona-Müdigkeit. „Aus dem Wann muss einWie werden“, sagt der Psychologe Paul Bremer vom Kölner Marktforschungsinstitut Rheingold. Die Politik verharre in der Vorstellung, die Pandemie durch die x-te Lockdown-Verlängerung aushungern zu können, statt endlich Leitlinien vorzugeben, wie mit Schnelltests, Luftfiltern und intelligenten Hygienekonzepten das soziale Leben während der Pandemie wieder aufleben könnte. Rheingold erhebt seit Beginn der Corona-Zeit die Stimmungslage in Deutschland und hat gerade Ergebnisse von Tiefeninterviews veröffentlicht, die im Auftrag des Handelsverbands Heimwerken, Bauen und Garten geführt wurden. Die Teilnehmer geben darin zu Protokoll, dass sie das Gefühl haben, wertvolle Lebenszeit zu verlieren und endlich wieder Tätigkeiten nachgehen wollen, die sie als sinnvoll und gestaltend erleben.
„Die Geduld der Menschen ist aufgebraucht“, sagt Bremer, „alle Gesellschaftsspiele sind gespielt, alle Spazierwege in die nähere Umgebung abgeschritten, was die Leute zu Beginn der Pandemie als Freiräume empfunden haben, erscheint ihnen inzwischen als Hohlräume.“Die Leute fragten sich etwa, warum sie nicht mit ihrem Auto in die Ferienwohnung oder den Baumarkt fahren dürften, während Enge im Supermarkt oder im Schulbus toleriert würden. „Bei vielen drängt sich der Eindruck auf, es gehe der Politik eher um eine moralisierende Entscheidungsfindung bei der Frage, was verboten und erlaubt werden kann, und nicht um einen virologischen Pragmatismus, der letztlich fragt: In welchen Kontexten kann man wie mit guten Konzepten zeitnah Freiräume eröffnen. Vor allem, wenn sich die Impfungen weiter hinziehen und vielleicht am Ende gar nicht die erhoffte Erlösung aus der Pandemie bringen, wird sich diese Problematik weiter zuspitzen“, sagt Bremer.
Corona-Müdigkeit ist in Wahrheit Ausdruck von Perspektivlosigkeit. Allerdings ist diese Empfindung kein guter Ratgeber. Jetzt tritt ein, wovor Experten im Herbst gewarnt haben: Ein scheinbar endloser Lockdown mit ein wenig Öffnungs-Jo-Jo drückt auf die Stimmung und – das ist das Gefährliche – führt in irrationale Entscheidungen. Noch gibt es in Deutschland nicht genug Schnelltests, noch keine Teststrategie, die Impfung kommt nur kriechend voran, das alles ist das eigentliche Desaster. Darauf müsste die Bevölkerung nun großmütig durch noch mehr Selbstbeherrschung reagieren und weiter verzichten.
Doch natürlich ist das Gegenteil der Fall. Die so lange herbeigesehnten Mini-Lockerungen, das Einkaufen mit Termin, das Öffnen der Museen, sind vertretbare und für das soziale Leben dringend notwendige Erleichterungen. Doch sie treffen auf Corona-Müde. Und die haben – sehr verständlich – alles nur noch satt und werten vorsichtige Öffnungsschritte als Startsignal, auch privat wieder munter zu werden. Ein Treffen hier, ein Treffen dort. Haushalte zählt man lieber nicht nach. Und der Geburtstag musste schon mal ausfallen, da wird man wohl diesmal ein bisschen nachholen dürfen. Nur die engsten Freunde. Und ja, die Nachbarn kamen halt auch vorbei.
Das Leben lässt sich nicht unbegrenzt anhalten. Diese Erfahrung macht das Land gerade. Die Mobilitätsdaten beweisen es, die Leute sind wieder viel mehr unterwegs. Und niemand mag den Einwand mehr hören, dass dem Virus kollektive Gefühle wie die Corona-Müdigkeit egal sind.
Was nottut ist also einerseits, dass nun tatsächlich in Gang kommt, was die Politik schon viel zu oft angekündigt und wieder einkassiert hat: Impfen und Testen im großen Stil. Doch vielleicht ist es genauso wichtig, die segensreichen, smarten Öffnungen im Kultur-, Sport-, Konsumbereich als das zu benennen, was sie sind: Ventile, um Frust abzulassen. Spielräume, in denen Menschen sich wieder anders erleben können als daheim. Aber eben keine ersten Schritte in eine Normalität, die bereits vor der Türe stünde. Davon sind wir weit entfernt. Und darum liegt es weiter an jedem Einzelnen, dem Virus im privaten Raum nicht zu viele Chancen zu geben. Es ist das Gebot der Stunde, diese Wahrheit auszusprechen. Es ist vieles schlecht gelaufen. Die grassierende Corona-Müdigkeit ist verständlich. Ein kluger Ratgeber ist sie nicht.