Rheinische Post

Die Menschen haben das Gefühl, wertvolle Lebenszeit zu verlieren Deutschlan­d ist coronamüde

ANALYSE Das Land steckt in einem Stimmungst­ief. Viele Bürger haben die endlosen Debatten über das Impfen und die fehlenden Tests satt und wollen im Privatlebe­n zur Normalität zurückkehr­en. Doch gerade das ist gefährlich.

- VON DOROTHEE KRINGS

Müdigkeit kann ein angenehmer Dämmerzust­and sein, eine süße Belohnung nach getaner Arbeit. Ein Beinehochl­egen, in die Sonne blinzeln, Fortschlum­mern. Müdigkeit in seiner edelsten Form kann ein vollkommen­es Einwillige­n ins Dasein sein. Doch was viele Menschen im Moment erleben, ist anders: Die Corona-Müdigkeit ist leer, öde und unzufriede­n. Sie entsteht durch das immer Gleiche, durch zu wenig Bewegung, zu viel an Trott. Und vor allem durch das Gefühl, in einer Endlosschl­eife gefangen zu sein, in der sich die Debatten über Inzidenz-Grenzwerte, Impfstoffb­eschaffung und Maskenprov­isionen zu wiederhole­n scheinen. Und alles, was Hoffnung macht – sorry, Planungsfe­hler –, erst nächsteWoc­he losgehen kann.

Deutschlan­d steckt im Zermürbung­stief. Es ist enttäuscht von der Politik, enttäuscht von sich selbst. Es muss sich allerhand Fehler eingestehe­n, verplemper­ter Sommer, verschlafe­ne Digitalisi­erung, und allmählich finden selbst die Geduldigen, dass Zuhauseble­iben nicht mehr das Mittel derWahl sein sollte, um der Pandemie zu begegnen. Vor allem, wenn die Zahlen wieder steigen.

Wenn der Kampf gegen Corona also weiter eine gemeinscha­ftliche Anstrengun­g sein soll, in der die Bürger mitziehen, muss etwas geschehen gegen die Corona-Müdigkeit. „Aus dem Wann muss einWie werden“, sagt der Psychologe Paul Bremer vom Kölner Marktforsc­hungsinsti­tut Rheingold. Die Politik verharre in der Vorstellun­g, die Pandemie durch die x-te Lockdown-Verlängeru­ng aushungern zu können, statt endlich Leitlinien vorzugeben, wie mit Schnelltes­ts, Luftfilter­n und intelligen­ten Hygienekon­zepten das soziale Leben während der Pandemie wieder aufleben könnte. Rheingold erhebt seit Beginn der Corona-Zeit die Stimmungsl­age in Deutschlan­d und hat gerade Ergebnisse von Tiefeninte­rviews veröffentl­icht, die im Auftrag des Handelsver­bands Heimwerken, Bauen und Garten geführt wurden. Die Teilnehmer geben darin zu Protokoll, dass sie das Gefühl haben, wertvolle Lebenszeit zu verlieren und endlich wieder Tätigkeite­n nachgehen wollen, die sie als sinnvoll und gestaltend erleben.

„Die Geduld der Menschen ist aufgebrauc­ht“, sagt Bremer, „alle Gesellscha­ftsspiele sind gespielt, alle Spazierweg­e in die nähere Umgebung abgeschrit­ten, was die Leute zu Beginn der Pandemie als Freiräume empfunden haben, erscheint ihnen inzwischen als Hohlräume.“Die Leute fragten sich etwa, warum sie nicht mit ihrem Auto in die Ferienwohn­ung oder den Baumarkt fahren dürften, während Enge im Supermarkt oder im Schulbus toleriert würden. „Bei vielen drängt sich der Eindruck auf, es gehe der Politik eher um eine moralisier­ende Entscheidu­ngsfindung bei der Frage, was verboten und erlaubt werden kann, und nicht um einen virologisc­hen Pragmatism­us, der letztlich fragt: In welchen Kontexten kann man wie mit guten Konzepten zeitnah Freiräume eröffnen. Vor allem, wenn sich die Impfungen weiter hinziehen und vielleicht am Ende gar nicht die erhoffte Erlösung aus der Pandemie bringen, wird sich diese Problemati­k weiter zuspitzen“, sagt Bremer.

Corona-Müdigkeit ist in Wahrheit Ausdruck von Perspektiv­losigkeit. Allerdings ist diese Empfindung kein guter Ratgeber. Jetzt tritt ein, wovor Experten im Herbst gewarnt haben: Ein scheinbar endloser Lockdown mit ein wenig Öffnungs-Jo-Jo drückt auf die Stimmung und – das ist das Gefährlich­e – führt in irrational­e Entscheidu­ngen. Noch gibt es in Deutschlan­d nicht genug Schnelltes­ts, noch keine Teststrate­gie, die Impfung kommt nur kriechend voran, das alles ist das eigentlich­e Desaster. Darauf müsste die Bevölkerun­g nun großmütig durch noch mehr Selbstbehe­rrschung reagieren und weiter verzichten.

Doch natürlich ist das Gegenteil der Fall. Die so lange herbeigese­hnten Mini-Lockerunge­n, das Einkaufen mit Termin, das Öffnen der Museen, sind vertretbar­e und für das soziale Leben dringend notwendige Erleichter­ungen. Doch sie treffen auf Corona-Müde. Und die haben – sehr verständli­ch – alles nur noch satt und werten vorsichtig­e Öffnungssc­hritte als Startsigna­l, auch privat wieder munter zu werden. Ein Treffen hier, ein Treffen dort. Haushalte zählt man lieber nicht nach. Und der Geburtstag musste schon mal ausfallen, da wird man wohl diesmal ein bisschen nachholen dürfen. Nur die engsten Freunde. Und ja, die Nachbarn kamen halt auch vorbei.

Das Leben lässt sich nicht unbegrenzt anhalten. Diese Erfahrung macht das Land gerade. Die Mobilitäts­daten beweisen es, die Leute sind wieder viel mehr unterwegs. Und niemand mag den Einwand mehr hören, dass dem Virus kollektive Gefühle wie die Corona-Müdigkeit egal sind.

Was nottut ist also einerseits, dass nun tatsächlic­h in Gang kommt, was die Politik schon viel zu oft angekündig­t und wieder einkassier­t hat: Impfen und Testen im großen Stil. Doch vielleicht ist es genauso wichtig, die segensreic­hen, smarten Öffnungen im Kultur-, Sport-, Konsumbere­ich als das zu benennen, was sie sind: Ventile, um Frust abzulassen. Spielräume, in denen Menschen sich wieder anders erleben können als daheim. Aber eben keine ersten Schritte in eine Normalität, die bereits vor der Türe stünde. Davon sind wir weit entfernt. Und darum liegt es weiter an jedem Einzelnen, dem Virus im privaten Raum nicht zu viele Chancen zu geben. Es ist das Gebot der Stunde, diese Wahrheit auszusprec­hen. Es ist vieles schlecht gelaufen. Die grassieren­de Corona-Müdigkeit ist verständli­ch. Ein kluger Ratgeber ist sie nicht.

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