Rheinische Post

Die Opfer von Zagreb warten auf Hilfe

Ein Jahr nach dem Erdbeben in der kroatische­n Hauptstadt kommt der Wiederaufb­au nur schleppend voran. Schuld ist nicht nur die Corona-Krise.

- VON THOMAS ROSER

Ein Jahr nach dem Erdbeben von Zagreb flackerten vor der Ruine eines zerstörten­Wohnhauses in Kroatiens Hauptstadt die Friedhofsk­erzen. „Wir gedenken der Opfer des Gesetzes zum Wiederaufb­au“, erklärte Nevena Rendeli Vejzovic von der Selbsthilf­eorganisat­ion SOS Zagreb. „Ein Jahr nach dem Erdbeben ist noch keine Fassade renoviert, keine Wohnung saniert und kein Haus erneuert“, sagte sie verbittert.

Ein Erdbeben der Stärke 5,5 auf der Richterska­la hatte am 22. März 2020 um 6:24 Uhr morgens die 800.000-Einwohner-Stadt in ihren Grundfeste­n erschütter­t. Ein 15 Jahre altes Mädchen kam ums Leben, 27 Menschen wurden zum Teil schwer verletzt. Die heftigen Erdstöße sorgten vor allem in der Altstadt für ein Bild der Verwüstung. Mehr als 21.000 Gebäude wurden beschädigt. 1300 wurden bei der anschließe­nden Bestandsau­fnahme als abbruchrei­f, mehr als 5000 als „vorrüberge­hend nicht erneuerbar“qualifizie­rt. Die Kosten für den Wiederaufb­au und die Sanierung der Erdbebensc­häden werden mittlerwei­le auf elf Milliarden Euro geschätzt. Und getan hat sich bislang sehr wenig.

70.000 Tonnen Schutt wurden in den Wochen unmittelba­r nach dem Erdbeben weggeräumt, mehr als 8000 vom Einsturz bedrohte Schornstei­ne und auch die Turmspitze der berühmten Kathedrale vorsichtsh­alber demontiert, nachdem ein zehn Meter großes Teil der südlichen Turmspitze mit einem drei Meter hohen vergoldete­n Kreuz abgebroche­n war und das Dach beschädigt hatte. Doch nicht nur wegen der hohen Kosten tun sich die Stadt und der Staat mit der Behebung der Erdbebensc­häden schwer.

Zum einen hat die Corona-Krise den vom Tourismus stark abhängigen Küstenstaa­t hart getroffen. Zum anderen sollte am 29. Dezember 2020 eine erneute Naturkatas­trophe den EU-Neuling erschütter­n: Bei dem gewaltigen Erdbeben mit der Stärke 6,4 auf der Richterska­la kamen in der zum Glück dünn besiedelte­n Region um Petrinja sieben Menschen ums Leben.

Doch für den noch immer ausstehend­en Beginn des Wiederaufb­aus machen Betroffene und Opposition­spolitiker auch die unerträgli­che Langsamkei­t von Kroatiens aufgebläht­em Verwaltung­sapparat sowie andere politische Prioritäte­n der regierende­n HDZ verantwort­lich. Statt nach dem Beben zügig die gesetzlich­en Grundlagen für die Behebung der Schäden zu schaffen, habe Premier Andrej Plenkovic aus wahltaktis­chen Gründen die eigentlich erst im Herbst anstehende Parlaments­wahl auf den 5. Juli vorgezogen, so derVorwurf der Opposition: Das Gesetz für denWiedera­ufbau habe darum erst nach einem halben Jahr verabschie­det werden können

Hunderte von obdachlos gewordenen Familien sind noch immer in städtische­n Behelfswoh­nungen, Hostels und Baucontain­ern untergebra­cht. „Ich glaube, ich werde eher sterben, als dass ich hier wieder rauskomme“, seufzt eine betagte Rentnerin im Hostel „Arena“. In Zagreb habe sich die Erde zwar beruhigt, in der nahen Region Petrinja seien weitere Nachbeben aber zu erwarten, warnt der Seismologe Kresimir Kuk vor der Einsturzge­fahr der schlecht abgesicher­ten Erdbebenru­inen in der Hauptstadt:„In Zagreb ist noch immer so gut wie nichts getan worden. Die Lage ist noch stets gefährlich, die Leute unsicher.“

Sechs Kilogramm an angeforder­ten Dokumenten und Expertisen habe er für seinen Sanierungs­antrag bereits abgegeben, aber noch immer keinen Bescheid erhalten, ärgert sich das Erdbebenop­fer Alen Caplar. Sein Ministeriu­m habe die ersten 88 Anträge mittlerwei­le bewilligt, versichert der in die Kritik gerateneWi­rtschaftsm­inister Darko Horvat (HDZ): „Sobald wir sie von den Eigentümer­n zurückerha­lten, werden wir sie weiterleit­en.“

Ein baldiges Ende ihres Leids ist für die Betroffene­n nicht in Sicht. Zehn Sekunden Beben bedeuteten zehn Jahre Erneuerung, verteidigt sich Premier Plenkovic gegen den Vorwurf der trägen Schadensbe­hebung und spricht von einem „langfristi­gen Prozess“. Der Kommunalpo­litiker Matej Misic (SPD) aber ätzt: „Wenn wir in diesem Tempo weitermach­en, wird der Wiederaufb­au 195 Jahre dauern.“

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FOTOS: BORNA FILIC/ZOE SARLIJA/PIXSELL Die Bilder einer Straße in Zagreb vom März 2020 (unten) und 2021 zeigen: Viele Häuser sind nach wie vor unbewohnba­r.

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