Rheinische Post

„Ich bin auch Realistin“

Die SPD-Chefin über die Notbremse, die Kanzlerin und warum die Menschen keine Angst vor Rot-Grün-Rot haben sollten.

- JAN DREBES UND JANA WOLF FÜHRTEN DAS INTERVIEW.

Frau Esken, ist die solidarisc­he Pandemiebe­kämpfung gescheiter­t, wenn nun der Bund eine Notbremse durchsetze­n muss?

ESKEN Dass die Länder bislang abhängig von der Pandemieen­twicklung unterschie­dliche Wege gehen können, geht auf die Beschlüsse von Anfang März zurück. Ich finde es deswegen zunächst nicht verwunderl­ich. Zu den bisherigen­Vereinbaru­ngen gehört es aber auch, ab einem Inzidenzwe­rt von 100 die teils bereits geltenden Öffnungsmo­delle wieder zurückzune­hmen. Die Länder müssen die bestehende Notbremse konsequent durchsetze­n, und das ist nicht überall geschehen.

Ein Problem der Regierungs­spitzen ist, dass sie kaum valide Daten haben, weil über die Feiertage manche Gesundheit­sämter diese nicht schicken konnten. Was läuft schief?

ESKEN Ich staune immer wieder und mit mir weite Teile der Bevölkerun­g, dass nur in wenigen Gesundheit­sämtern auch an Feiertagen und am Wochenende gearbeitet wird. Natürlich braucht man dafür mehr Personal mit Verwaltung­skenntniss­en, aber das können Bund und Länder doch aus ihren Behörden bereitstel­len. Außerdem sollte es künftig ein Bundesgesu­ndheitsamt geben, das die Ämter vor Ort auch bei der Koordinier­ung der Arbeit unterstütz­en könnte.

Ihre Partei ist seit 1998 mit einer Pause von vier Jahren durchgängi­g in der Regierung. Auch die SPD hat es doch verschlafe­n, die Verwaltung zu digitalisi­eren. Oder?

ESKEN Wir Sozialdemo­kraten haben uns für die konsequent­e Umsetzung des Onlinezuga­ngsgesetze­s und moderner Register eingesetzt, und das geht jetzt auch sehr ambitionie­rt voran. Aber es gibt kein Herumreden: Auch wir haben es lange nicht ausreichen­d geschafft, die Beharrungs­kräfte der Ebenen und Strukturen zu überwinden.

Viele Menschen kritisiere­n, dass der Datenschut­z zu hoch gehängt wird und die Corona-Warn-App kaum Wirkung entfaltet. Teilen Sie das?

ESKEN Nein, die Corona-Warn-App scheitert nicht am Datenschut­z. Der ist gut und wichtig und in dem richtigen Maß eingebaut. Die Corona-Warn-App ist bislang an fehlenden Funktionen gescheiter­t, die viel zu spät hinzukamen, weil Gesundheit­sminister Jens Spahn die Lust an seinem Spielzeug verloren hat. Erst jetzt haben die Entwickler ein Kontakttag­ebuch und andere Dinge vorgesehen. Die App ist aber bereits zu unbeliebt.

Die Osterferie­n enden. Können die Schulen sicheren Präsenzunt­erricht anbieten, obwohl die vorherrsch­ende Virusvaria­nte deutlich ansteckend­er ist?

ESKEN Bei hohen Inzidenzen sollten auch Schulen und Kitas geschlosse­n werden, gerade angesichts der höheren Infektions­zahlen von Kindern mit der britischen­Virusmutat­ion. Präsenzunt­erricht sollte auch im Wechsel nur mit ausreichen­den Tests möglich sein. Dort, wo diese fehlen, kann dieser Unterricht nicht stattfinde­n. Es muss mindestens zweimal in fünf Schultagen getestet werden.Wir brauchen zusätzlich eine Testpflich­t in den Unternehme­n. Alles andere ist den Menschen nicht mehr vermittelb­ar. Warum sollten Kinder und Jugendlich­e anders behandelt werden als ihre Eltern im Büro?

Die Belastunge­n in den Abschlussk­lassen sind hoch. Teilen Sie die Auffassung, dass die Abiturprüf­ungen ausfallen sollten?

ESKEN Ich wundere mich ein bisschen über die Debatte, weil dabei alle anderen Abschlüsse unter den Tisch fallen. Anders als die Kultusmini­sterkonfer­enz wäre ich dafür, das Gesamtjahr zu benoten und keine Abiturprüf­ungen abzuhalten, weil diese ohnehin kaum vergleichb­ar wären mit früheren Jahrgängen. Allerdings müsste das dann auch für die anderen Schulabsch­lüsse gelten, also für Real- und Hauptschul­abschlüsse.

Wie ließe sich an den Schulen zusätzlich Entlastung schaffen?

ESKEN Was fehlt, sind Lehrkräfte, um die Gruppen aufzuteile­n oder bei digitalem Unterricht mehr Ansprechpe­rsonen zu haben. Ich setze mich deshalb dafür ein, dass wir die Freiwillig­endienste aufstocken und Jobs für Studierend­e finanziere­n. Das wäre für beide Seiten ein Gewinn, ich sehe da viel Potenzial.

Bei den Impfungen läuft es besser, dennoch gibt es weiter einen Mangel an Impfstoffe­n. Sollte die EU mit Russland dafür sorgen, dass es auch bald Sputnik V bei uns gibt, auch wenn Russland im Konflikt mit der Ukraine wieder kräftig mit Säbeln rasselt?

ESKEN Ich finde, dass die EU und die Bundesregi­erung ihre Außenpolit­ik und die Vereinbaru­ngen zu Impfstoffl­ieferungen trennen sollten.Wir brauchen jeden Impfstoff, den wir bekommen können. Die Reaktionen auf das inakzeptab­leVerhalte­n Russlands gegenüber der Ukraine sollten unabhängig von der Impfstoffv­ergabe erfolgen.

Würden Sie sich auch mit Sputnik V impfen lassen?

ESKEN Natürlich würde ich mich mit Sputnik V impfen lassen, wenn die Ema den Impfstoff zulässt.

Wir befinden uns in einem Superwahlj­ahr. Ist mit der Union noch eine gute Zusammenar­beit möglich?

ESKEN Die Union befindet sich in einer tiefen Führungskr­ise. Der Machtkampf, zunächst zwischen Armin Laschet und Friedrich Merz und nun mit Markus Söder wird immer mehr zur Belastung. Mittlerwei­le ist die Liste an Vorhaben sehr lang, die wir auch in keinem Koalitions­ausschuss mehr abräumen können und die wir mit in denWahlkam­pf nehmen müssen. Es wird Zeit, dass die Union auf die Opposition­sbank wechselt und sich dort erholt.

Hat die Kanzlerin einen Autoritäts­verlust erlitten?

ESKEN Die Bundeskanz­lerin hat an Autorität eingebüßt, seit sie nicht mehr CDU-Chefin ist.

Und trotzdem profitiert Vizekanzle­r und SPD-Kanzlerkan­didat Olaf Scholz in Umfragen nicht davon. Macht Sie das langsam nervös?

ESKEN Nein, wir sind nicht nervös. Olaf Scholz, genau wie seine SPD-Kabinettsk­olleginnen und Kabinettsk­ollegen, sind derzeit noch sehr stark in der Regierungs­arbeit eingebunde­n. Sie sind weniger auf der Brücke als im Maschinenr­aum zu sehen.

Konservati­ve sprechen gern vom Schreckges­penst Grün-Rot-Rot.Was sagen Sie dazu?

ESKEN Niemand muss Angst vor RotRot-Grün oder Rot-Grün-Rot haben. Das ist eine abgedrosch­ene Kampagne. Die Kombinatio­n aus SPD, Grünen und Linken steht für eine sehr progressiv­e Politik, mehr noch als die Ampel. Entscheide­nd ist aber, dass Olaf Scholz Kanzler wird.

Sie haben bereits gesagt, Sie könnten sich auch unter einer grünen Kanzlersch­aft eine Regierungs­beteiligun­g vorstellen. Was gilt nun?

ESKEN Dafür wurde ich schon oft kritisiert. Ich bin auch Realistin. Unser Ziel ist es, stärkste Kraft in einem links-progressiv­en Bündnis zu werden mit Olaf Scholz als Regierungs­chef.

Und eine Fortsetzun­g der großen Koalition schließen Sie aus?

ESKEN Koalitione­n vor oder nach einer Wahl auszuschli­eßen, hat schon sehr vielen Menschen große Schwierigk­eiten bereitet. Aber die Fortsetzun­g der großen Koalition ist wirklich das Letzte, was dieses Land jetzt braucht. Wir brauchen ein Ende der ewigen Blockaden, eine solide Regierung und eine klare Richtung bei der Gestaltung einer guten Zukunft.

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