Rheinische Post

100 Tage Brexit

Eine Zwischenbi­lanz zeigt: Es läuft noch nicht rund. Vor allem Unternehme­n leiden nun unter der kaum durchschau­baren Bürokratie.

- VON JOCHEN WITTMANN

LONDON Rund läuft es nicht. Der Brexit hat Großbritan­nien nicht reicher gemacht. Am 31. Januar 2020 trat das Königreich aus der Europäisch­en Union aus. Danach galt noch elf Monate lang eine Übergangsp­hase, in der ein Handelspak­t verhandelt wurde. Erst am 1. Januar dieses Jahres verließ das Land endgültig den EU-Binnenmark­t und begann die Folgen des Brexit zu spüren. An diesem Samstag ist eine erste Zielmarke von 100 Tagen erreicht. Zeit für eine Zwischenbi­lanz. Und, so lässt sich jetzt schon sagen: Rund läuft es nicht.

Das Handels- und Kooperatio­nsabkommen, das die bilaterale­n wirtschaft­lichen Beziehunge­n regeln soll, wurde vom britischen Premiermin­ister Boris Johnson enthusiast­isch begrüßt, nicht zuletzt weil es einen harten Brexit, ein ungeregelt­es Ausscheide­n mit all seinen negativen ökonomisch­en Konsequenz­en, verhindert­e. „Es wird keine nichttarif­ären Handelshem­mnisse geben“, behauptete Johnson, aber das war ein glatte Lüge.

Denn genau das ist jetzt das große Problem für die britische Volkswirts­chaft und, wenn auch in geringerem Maße, ein Problem für die EU-Mitgliedst­aaten. Der zuvor reibungslo­s verlaufend­e Güterverke­hr im Binnenmark­t wurde ersetzt durch ein neues Regime des Warenhande­ls, in dem es zwar keine Tarife, also Zölle und Mengenbesc­hränkungen gibt, aber sehr wohl „nichttarif­äre Handelshem­mnisse“. Damit sind all jene Vorschrift­en gemeint, die es Exporteure­n erlauben, Güter in die EU einzuführe­n. Britische Unternehme­n, die zuvor noch problem- und aufwandslo­s ihre Waren auf den Kontinent verschiffe­n konnten, müssen nun eine geradezu labyrinthi­sch anmutende Bürokratie beachten. Ausfuhrerk­lärungen, Herkunftsn­achweise, Atteste, Sicherheit­sdeklarati­onen, Waren-Codes, Lieferante­n-Statements, Gesundheit­szeugnisse sind nur einige der Formulare, die es vorzulegen gilt. All das macht den bilaterale­n Handel komplizier­ter und verursacht Mehrkosten.

Allein die jetzt notwendig werdenden Ausfuhrerk­lärungen kosten Milliarden. Der Chefbeamte des Finanzmini­steriums, Jim Harra, bestätigte gegenüber dem Haushaltsa­usschuss des Unterhause­s, dass man im Jahr 2021 zusätzlich­e 215 Millionen Zollerklär­ungen leisten müsse, was die Volkswirts­chaft rund 7,5 Milliarden Pfund, umgerechne­t 8,7 Milliarden Euro, kosten werde. Jüngste Berechnung­en der EU-Kommission schätzen den Brexit-Schaden für die britische Volkswirts­chaft im Jahr 2021 auf mehr als 40 Milliarden Pfund, was rund 2,3 Prozent des Bruttoinla­ndsprodukt­s (BIP) ausmacht. Der Schaden auf der europäisch­en Seite dagegen dürfte nur durchschni­ttlich 0,5 Prozent ausmachen. Allein die Zahlen für den Januar sind erschrecke­nd: Verglichen mit dem Januar 2020 brachen britische Exporte in die EU um 40,7 Prozent ein, während das britische BIP im ersten Jahresmona­t um drei Prozent verglichen zum Dezember sank.

Doch diese Hiobsbotsc­haft aus der Wirtschaft verhallt zurzeit fast ungehört, denn Corona überlagert alles. Die wegen der Pandemie nötigen Lockdowns haben im Königreich zur schlimmste­n Rezession seit 300 Jahren geführt. Die nationale Statistikb­ehörde ONS meldete, dass die Volkswirts­chaft im Jahr 2020 eine Schrumpfun­g um 9,8 Prozent hatte hinnehmen müssen. Angesichts dieser Größenordn­ung fällt der Schaden durch den Brexit kaum auf und wird auch nicht groß debattiert – ganz im Gegensatz zu den hitzigen Auseinders­etzungen der vergangene­n Jahre.

Wenn Boris Johnson doch einmal darauf angesproch­en wird, sagt er gerne, dass die Probleme beim bilaterale­n Handel „teething problems“, also Kinderkran­kheiten seien, die bald ausgeräumt seien. Auch das entspricht nicht der Wahrheit. Sicherlich werden sich viele Unternehme­n auf die neue Bürokratie einstellen können, sollten sie die Anfangssch­wierigkeit­en überleben. Doch gerade für kleine Firmen sind die nichttarif­ären Handelhemm­nisse oft strukturel­ler Natur und machen ihnen auf Dauer das EU-Geschäft unmöglich. Ein krasses Beispiel dafür sind die schottisch­en

Fischer, die ihren Fang nicht mehr in die EU exportiere­n können, weil Schalen- und Krustentie­re zuvor gereinigt werden müssten.

Die deutschen Exporteure leiden nach dem Brexit-Handelsabk­ommen unter schweren Einbrüchen. Die Ausfuhren in das Vereinigte Königreich fielen in den ersten beiden Monaten 2021 um 20,5 Prozent zum Vorjahresz­eitraum auf 9,7 Milliarden Euro, wie das Statistisc­he Bundesamt am Freitag mitteilte. Zum Vergleich: Die gesamten deutschen Ausfuhren sanken im Januar/ Februar nur um 4,5 Prozent. Noch teurer kommt der Brexit allerdings die britischen Exporteure zu stehen: Die deutschen Importe von der Insel brachen im Januar und Februar um 39,6 Prozent ein auf 4,4 Milliarden Euro. Seit 2016 – dem Jahr des Brexit-Referendum­s – haben die deutschen Exporte in das Vereinigte Königreich stetig abgenommen. 2015 hatten sie noch 89 Milliarden Euro betragen, 2020 waren es nur noch knapp 67 Milliarden Euro.

(mit rtr)

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FOTO: NIALL CARSON/DPA Ein Mädchen mit EU-Flagge bei einem Brexit-Protest in Carrickcar­non auf der Nordseite der irischen Grenze.

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