Rückzug aus Afghanistan
Präsident Joe Biden will bis zum 11. September die US-Truppen aus Afghanistan abziehen. Er will nicht mehr abwarten, ob sich die Regierung in Kabul und die Taliban einigen können. Auch die Nato leitet nun das Ende ihres Einsatzes ein.
WASHINGTON Es ist ein Abschied ohne Wenn und Aber, verbunden mit großer Symbolik. Spätestens am 11. September, exakt 20 Jahre nach den Terroranschlägen auf New York und Washington, soll er beendet sein, der längste Krieg der US-Geschichte. Nach intensiven Beratungen im Kreis seines Sicherheitskabinetts hat Joe Biden entschieden, den Abzug nicht an Vorbedingungen zu knüpfen. Mit anderen Worten: An dem Datum soll nicht mehr gerüttelt werden, was auch immer in Kabul, Kandahar oder Kundus geschieht. Es ist, wenn man so will, in Stein gemeißelt.
Nach der Rückzugsentscheidung der USA leitet nun auch die Nato das Ende ihres Einsatzes in Afghanistan ein. Die Alliierten hätten entschieden, mit dem Abzug aus dem Land zu beginnen, wie am Mittwochabend nach einer Videokonferenz bekannt wurde.
Der amerikanische Präsident hat, simpel formuliert, den Glauben verloren, mit der Militärpräsenz am Hindukusch noch etwas bewirken zu können. Er will nicht mehr abwarten, ob sich die Regierung in Kabul und die Taliban doch noch auf eine Waffenruhe und Modalitäten der Machtteilung verständigen können. Gespräche zwischen beiden Seiten, im September in Katar begonnen, haben bislang nichts Zählbares erbracht. Ob sie je zu belastbaren Kompromissen führen, darauf möchte imWeißen Haus niemand wetten. Angesichts der vielen Unbekannten hat Biden die Reißleine gezogen.
Würde man den Rückzug von einer inner-afghanischen Einigung abhängig machen, glaubt er, würde man ihn immer wieder aufs Neue verschieben. Einer seiner Berater hat das, noch bevor der Präsident am Mittwoch sein Konzept erläuterte, schnörkellos auf den Punkt
gebracht: Ein an Bedingungen geknüpfter Abzug wäre „ein Rezept, um für immer in Afghanistan zu bleiben“. Seit zwei Dekaden rede man nun schon von Voraussetzungen, die erfüllt sein müssten, bevor man die „Boys in Uniform“nach Hause holen könne. Im Grunde laufe es nur darauf hinaus, die Entscheidung bis in alle Ewigkeit zu vertagen.
Das klingt kaum anders, als es unter Donald Trump geklungen hatte. Der sprach imWahlkampf von Amerikas „endlosen Kriegen“, unter die es einen Schlussstrich zu ziehen gelte. Gemäß dem Deal, den Trumps Emissäre mit den Taliban schlossen, sollten sämtliche GIs das Land bis zum 1. Mai verlassen. Unter Biden hatte es zunächst den Anschein, als wollte man das alles noch einmal gründlich überdenken. Generäle meldeten Widerspruch an. In Kabul das Feld zu räumen, warnten sie, würde die Terrorgefahr, die zu bannen man einst einmarschiert sei, erneut heraufbeschwören. Ein überhasteter Rückzug würde den Taliban den Weg zurück an die Macht ebnen, angesichts der Vorgeschichte eine bittere Ironie. Die Strategiedebatte haben die Generäle verloren, was – wiederum angesichts derVorgeschichte – keine allzu große Überraschung ist. Biden war nie ein Fan des Einsatzes am Hindukusch. Aber auch er hat bei internen Diskussionen den Kürzeren gezogen, im Jahr 2009, als Stellvertreter Barack Obamas.
Es ging darum, in welchem Maße die Truppen aufgestockt werden sollten, um die erstarkenden Taliban in die Schranken zu weisen. Stanley McChrystal, seinerzeit Kommandeur des Afghanistan-Kontingents, forderte mindestens 40.000 zusätzliche Soldaten.
Der Skeptiker Biden dagegen plädierte für gezielte Schläge, für Drohnenangriffe und Kommando-Operationen, für einen kleineren Fußabdruck anstelle flächendeckender Präsenz. Dem Journalisten Evan Osnos hat Obama kürzlich noch einmal erzählt, welche Rolle sein Vize damals spielte. „Joe hat mir geholfen, konsequent die Frage zu stellen, warum wir eigentlich dort sind.“Statt ideologische Debatten zu führen, was oft Übertreibungen oder mangelnde Präzision zur Folge habe, habe Biden wissen wollen, welche Ziele man mit welchen Ressourcen exakt erreichen wolle.
Am Ende stockte Obama, wenn auch halbherzig, die Truppe um 30.000 Soldaten auf, auf mehr als 100.000. Sein Vize hatte sich nicht durchsetzen können, doch was folgte, bestätigte ihn nur in seiner Skepsis. Auf lange Sicht änderte die kurzzeitige Offensive nämlich nichts am Comeback der Taliban. Wie, fragen Bidens Berater, soll ein bescheidenes Restkontingent, aktuell bestehend aus 2500 US-Militärs, erreichen, woran eine viel größere Streitmacht gescheitert ist?
Mitch McConnell gehört zu denen, die von einem schweren Fehler sprechen. Sich zurückzuziehen im Angesicht eines Feindes, den man noch nicht besiegt habe, warnt der republikanische Senator, bedeute eine Absage an Amerikas Führungsrolle. Die Taliban besiegen zu wollen, entgegnet das Weiße Haus, sei kein realistisches Ziel.