Den Vater vor dem Verschwinden retten
Kirsten Johnson hält das Sterben ihres an Alzheimer erkrankten Vaters bei Netflix in einem Dokumentarfilm fest. Schrecklich? Nein. Sondern heiter, liebevoll und unbedingt sehenswert.
Irgendwann merkt Kirsten Johnson, dass ihr Vater vergesslich wird. Er arbeitet als Psychiater in Seattle, und er bestellt zwei Patienten zur selben Uhrzeit ein, verwechselt Rezepte und fährt die fünf Meilen nach Hause auf vier platten Autoreifen. Sie beschließt, den 87 Jahre alten Witwer in ihre Zwei-Zimmer-Wohnung nach New York zu holen. Und weil sie Dokumentarfilmerin ist, fragt sie ihren Vater, ob sie den Umzug mit der Kamera begleiten dürfe. Zum Glück willigt er ein.
„Dick Johnson ist tot“heißt das Ergebnis dieses Projekts, das nun bei Netflix zu sehen ist. Das ist ein beispiellos menschlicher und warmherziger Film, eine „Komödie über das Sterben“nennen ihn die Beteiligten selbst. Die Produktion zeigt, zu was ein Dokumentarfilm imstande sein kann: Nicht das allmählicheVerschwinden der Persönlichkeit des Vaters ist nämlich sein eigentliches Hauptthema. Sondern das Festhalten an Erinnerungen, das Miteinander-ins-GesprächKommen, das würdevolle, heitere und vor allem gemeinsame Weiterleben angesichts des Unausweichlichen.
Der Zuschauer ist dabei, wenn Dick Johnson seine Praxis über den Dächern Seattles ausräumt. Beim Einpacken der Romane von Saul Bellow und Fachbücher über Psychologie sprechen Vater und Tochter über Schmerz. Und die Tochter erfährt, wie sich damals der Herzinfarkt des Vaters angefühlt hat. „Das wusste ich nicht“, sagt sie. Und dann: „30 Jahre wurden dir damals geschenkt.“Er nickt: So kann man es auch sehen. Der Hausmeister kommt hinzu, er setzt sich und erzählt, wie sein Vater gestorben ist. Und auf einmal ist das eine Gemeinschaft von Menschen, denen man anmerkt, dass dieses zufällige Gespräch ihnen gut tut.
Kirsten Johnson umschifft jedes Pathos, und das gelingt ihr auch deshalb, weil sie eine besondere Beziehung zum Vater hat. Die beiden gehen so liebevoll miteinander um, sie sind so ungemein aneinander interessiert. Als er seinen Führerschein abgeben muss, weint der Vater. Er merkt, dass er seine Unabhängigkeit verliert. Aber er sagt: „Ich tausche sie jederzeit dagegen ein, bei dir zu sein.“Immer wieder zeigt die Tochter das Gesicht des Vaters in respektvollen Großaufnahmen: Selten kommt man einem Menschen im Film so nahe, kann man so tief in dessen Atmosphäre eintauchen.
Unterbrochen wird das rein Dokumentarische durch Spiel- und Fantasieszenen. Kirsten Johnson inszeniert für den Vater verschiedene Todesarten in kleinen makaberen Szenen, für die sie Stuntmen engagiert. Eine heruntergefallene Klimaanlage erschlägt ihn. Ein Bauarbeiter verletzt ihn tödlich. Er fällt von der Treppe. In diesen Episoden machen sich die beiden ein Bild vom Tod. Sie nehmen sich selbst die Angst, indem sie ihm etwas Slapstickhaftes geben. Und sie gehen noch weiter: Sie machen sich auch ein Bild vom Jenseits.
In einer Halle inszeniert Johnson den Himmel aus Wattewolken und Goldflitter. Dort tanzen zwei Schauspieler, die Masken von Dick Johnson und dessen verstorbener Frau tragen. Dem Vater haben sie seinen Lieblingssessel ans Set gestellt; von dort schaut er zu, und er wirkt froh dabei. Einem Freund beschreibt er das Konzept des Films so: „Sie tötet mich mehrmals. Und ich werde wieder lebendig.“
Einmal lässt die Tochter den Vater in einem Sarg Probe liegen. Auch seine Trauerfeier arrangiert sie: Freunde halten die Ansprachen, die sie gehalten hätten, wenn Dick Johnson tatsächlich verstorben wäre. Und der Betrauerte schaut durch ein Fenster zu, betritt schließlich den Raum und umarmt alle. Gekontert werden solche durchaus widerspenstigen und schräg anmutenden Szenen mit medizinischen Bulletins. Ärzte des Mount Sinai Hospital diagnostizieren, wie stark sich der Geist des Vaters vernebelt, wie schwach sein Gedächtnis wird. Kirsten Johnson kommentiert aus dem Off: „Nur der Gedanke, diesen Mann einmal zu verlieren, ist kaum zu ertragen. Er ist mein Dad.“
Besonders anrührend sind jene Momente, in denen sich die Tochter gemeinsam mit ihrem Vater an die an Alzheimer gestorbene Mutter erinnert. Sie bereut, dass es keine Aufnahmen der gesunden Mutter gibt. Nur solche, die sie zeigen, als sie ihre Angehörigen schon nicht mehr erkennt. Ob er je an Selbstmord gedacht habe, fragt die Tochter. Nein, sagt der Vater, dafür liebe er das Leben zu sehr. „Würdest Du auch leben wollen, wenn du wie Mama nicht mehr kommunizieren kannst?“, fragt sie. „Ja“, sagt er. Und: „Kannst mich ja einschläfern lassen.“Ab wann denn?, will die Tochter wissen. „Kannst mich ja vorher fragen“, entgegnet er. Dann schmunzeln sie.
Der Film wirft so viele Fragen auf. Was bleibt von einem?Wie fühlt sich Sterben an, wenn es lange dauert? Wie sieht Glück aus? Wohin mit all der Liebe? Kirsten Johnson lebt in New York Tür an Tür mit den zwei Vätern ihrer kleinen Kinder. Sie hat einen anderen Lebensentwurf als ihr Vater. Aber nun sitzen sie zusammen, die Kinder springen um ihren Großvater herum, sie kochen und essen miteinander Schokoladeneis und reden. Sie sind zusammen, denkt man.Völlig unterschiedliche Menschen, die nichts anderes verbindet als immense Zuneigung.
Man nennt das Familie.