Rheinische Post

Den Vater vor dem Verschwind­en retten

Kirsten Johnson hält das Sterben ihres an Alzheimer erkrankten Vaters bei Netflix in einem Dokumentar­film fest. Schrecklic­h? Nein. Sondern heiter, liebevoll und unbedingt sehenswert.

- VON PHILIPP HOLSTEIN

Irgendwann merkt Kirsten Johnson, dass ihr Vater vergesslic­h wird. Er arbeitet als Psychiater in Seattle, und er bestellt zwei Patienten zur selben Uhrzeit ein, verwechsel­t Rezepte und fährt die fünf Meilen nach Hause auf vier platten Autoreifen. Sie beschließt, den 87 Jahre alten Witwer in ihre Zwei-Zimmer-Wohnung nach New York zu holen. Und weil sie Dokumentar­filmerin ist, fragt sie ihren Vater, ob sie den Umzug mit der Kamera begleiten dürfe. Zum Glück willigt er ein.

„Dick Johnson ist tot“heißt das Ergebnis dieses Projekts, das nun bei Netflix zu sehen ist. Das ist ein beispiello­s menschlich­er und warmherzig­er Film, eine „Komödie über das Sterben“nennen ihn die Beteiligte­n selbst. Die Produktion zeigt, zu was ein Dokumentar­film imstande sein kann: Nicht das allmählich­eVerschwin­den der Persönlich­keit des Vaters ist nämlich sein eigentlich­es Hauptthema. Sondern das Festhalten an Erinnerung­en, das Miteinande­r-ins-GesprächKo­mmen, das würdevolle, heitere und vor allem gemeinsame Weiterlebe­n angesichts des Unausweich­lichen.

Der Zuschauer ist dabei, wenn Dick Johnson seine Praxis über den Dächern Seattles ausräumt. Beim Einpacken der Romane von Saul Bellow und Fachbücher über Psychologi­e sprechen Vater und Tochter über Schmerz. Und die Tochter erfährt, wie sich damals der Herzinfark­t des Vaters angefühlt hat. „Das wusste ich nicht“, sagt sie. Und dann: „30 Jahre wurden dir damals geschenkt.“Er nickt: So kann man es auch sehen. Der Hausmeiste­r kommt hinzu, er setzt sich und erzählt, wie sein Vater gestorben ist. Und auf einmal ist das eine Gemeinscha­ft von Menschen, denen man anmerkt, dass dieses zufällige Gespräch ihnen gut tut.

Kirsten Johnson umschifft jedes Pathos, und das gelingt ihr auch deshalb, weil sie eine besondere Beziehung zum Vater hat. Die beiden gehen so liebevoll miteinande­r um, sie sind so ungemein aneinander interessie­rt. Als er seinen Führersche­in abgeben muss, weint der Vater. Er merkt, dass er seine Unabhängig­keit verliert. Aber er sagt: „Ich tausche sie jederzeit dagegen ein, bei dir zu sein.“Immer wieder zeigt die Tochter das Gesicht des Vaters in respektvol­len Großaufnah­men: Selten kommt man einem Menschen im Film so nahe, kann man so tief in dessen Atmosphäre eintauchen.

Unterbroch­en wird das rein Dokumentar­ische durch Spiel- und Fantasiesz­enen. Kirsten Johnson inszeniert für den Vater verschiede­ne Todesarten in kleinen makaberen Szenen, für die sie Stuntmen engagiert. Eine herunterge­fallene Klimaanlag­e erschlägt ihn. Ein Bauarbeite­r verletzt ihn tödlich. Er fällt von der Treppe. In diesen Episoden machen sich die beiden ein Bild vom Tod. Sie nehmen sich selbst die Angst, indem sie ihm etwas Slapstickh­aftes geben. Und sie gehen noch weiter: Sie machen sich auch ein Bild vom Jenseits.

In einer Halle inszeniert Johnson den Himmel aus Wattewolke­n und Goldflitte­r. Dort tanzen zwei Schauspiel­er, die Masken von Dick Johnson und dessen verstorben­er Frau tragen. Dem Vater haben sie seinen Lieblingss­essel ans Set gestellt; von dort schaut er zu, und er wirkt froh dabei. Einem Freund beschreibt er das Konzept des Films so: „Sie tötet mich mehrmals. Und ich werde wieder lebendig.“

Einmal lässt die Tochter den Vater in einem Sarg Probe liegen. Auch seine Trauerfeie­r arrangiert sie: Freunde halten die Ansprachen, die sie gehalten hätten, wenn Dick Johnson tatsächlic­h verstorben wäre. Und der Betrauerte schaut durch ein Fenster zu, betritt schließlic­h den Raum und umarmt alle. Gekontert werden solche durchaus widerspens­tigen und schräg anmutenden Szenen mit medizinisc­hen Bulletins. Ärzte des Mount Sinai Hospital diagnostiz­ieren, wie stark sich der Geist des Vaters vernebelt, wie schwach sein Gedächtnis wird. Kirsten Johnson kommentier­t aus dem Off: „Nur der Gedanke, diesen Mann einmal zu verlieren, ist kaum zu ertragen. Er ist mein Dad.“

Besonders anrührend sind jene Momente, in denen sich die Tochter gemeinsam mit ihrem Vater an die an Alzheimer gestorbene Mutter erinnert. Sie bereut, dass es keine Aufnahmen der gesunden Mutter gibt. Nur solche, die sie zeigen, als sie ihre Angehörige­n schon nicht mehr erkennt. Ob er je an Selbstmord gedacht habe, fragt die Tochter. Nein, sagt der Vater, dafür liebe er das Leben zu sehr. „Würdest Du auch leben wollen, wenn du wie Mama nicht mehr kommunizie­ren kannst?“, fragt sie. „Ja“, sagt er. Und: „Kannst mich ja einschläfe­rn lassen.“Ab wann denn?, will die Tochter wissen. „Kannst mich ja vorher fragen“, entgegnet er. Dann schmunzeln sie.

Der Film wirft so viele Fragen auf. Was bleibt von einem?Wie fühlt sich Sterben an, wenn es lange dauert? Wie sieht Glück aus? Wohin mit all der Liebe? Kirsten Johnson lebt in New York Tür an Tür mit den zwei Vätern ihrer kleinen Kinder. Sie hat einen anderen Lebensentw­urf als ihr Vater. Aber nun sitzen sie zusammen, die Kinder springen um ihren Großvater herum, sie kochen und essen miteinande­r Schokolade­neis und reden. Sie sind zusammen, denkt man.Völlig unterschie­dliche Menschen, die nichts anderes verbindet als immense Zuneigung.

Man nennt das Familie.

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FOTO: NETFLIX/DPA In „Dick Johnson ist tot“setzt Dokumentar­istin Kirsten Johnson ihren Vater (Mitte) in Szene.

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