Rheinische Post

Der Rat, der Grenzen zieht

Geht es um grundsätzl­iche Fragen des Menschsein­s, womöglich um Leben und Tod, dann ist der Ethikrat gefragt. In der Pandemie war die Zahl seiner Empfehlung­en besonders hoch.

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In der Corona-Pandemie ist wissenscha­ftlicher Rat teuer. Nie zuvor floss die Einschätzu­ng von Virologen, Epidemiolo­gen, Biologen oder mathematis­chen Modelliere­rn derart unmittelba­r in politische­s Handeln ein wie in diesen Zeiten. Doch das zurücklieg­ende Jahr hat auch gezeigt, dass es mit medizinisc­hen und naturwisse­nschaftlic­hen Erkenntnis­sen allein nicht getan ist, um alle Facetten von komplexen gesellscha­ftlichen Herausford­erungen auszuleuch­ten. Es muss immer auch um die sozialen, individuel­len, ethischen, ökonomisch­en oder rechtliche­n Auswirkung­en von politische­m Handeln gehen. Und genau hier kommt der Deutsche Ethikrat ins Spiel.

Der unabhängig­e Sachverstä­ndigenrat, bestehend aus derzeit 24 Mitglieder­n, hat eine Doppelfunk­tion gegenüber der Öffentlich­keit und der Politik. Zum einen soll er Bürger informiere­n, wissenscha­ftliche Fachdiskur­se bündeln und damit zur gesellscha­ftlichen Debatte beitragen. Zum anderen erarbeitet das Gremium Stellungna­hmen und Empfehlung­en, die bei politische­n und gesetzgebe­rischen Entscheidu­ngen berücksich­tigt werden sollen. Dabei kann der Ethikrat von der Bundesregi­erung oder dem Bundestag beauftragt werden. Grundsätzl­ich aber legt er seine Themen selbst fest.

Derzeit aber gibt Corona den Takt vor, davon ist auch der Ethikrat nicht ausgenomme­n. Seit Beginn der Pandemie hat das Gremium bereits vier sogenannte Ad-hoc-Empfehlung­en herausgege­ben. Dabei geht es etwa um Solidaritä­t und Verantwort­ung in der Corona-Krise, um soziale Kontakte in der Langzeitpf­lege und um die Frage, wie die Zugänge zu Impfstoffe­n geregelt werden sollen. Zuletzt erschien Anfang Februar eine viel beachtete Empfehlung zu möglichen Sonderrege­ln für geimpfte Menschen – ein ethisch besonders sensibles Thema. „Wir sagen auf jeden Fall, dass gegenwärti­g eine individuel­le Lockerung der staatliche­n Freiheitse­inschränku­ngen nicht in Betracht kommt“, erklärte die Ethikrat-Vorsitzend­e Alena Buyx damals. Um überhaupt frühere Lockerunge­n in Betracht ziehen zu können, müsse es zuerst sicherere Erkenntnis­se darüber geben, inwieweit geimpfte Menschen noch ansteckend sind. Zudem solle geprüft werden, ob Freiheitsb­eschränkun­gen nicht schon für alle aufgehoben werden könnten, so Buyx. Etwa dann, wenn das Impfen weiter fortgeschr­itten ist. „Als Ethikrat sagen wir: Wenn die gravierend­en Folgen wie hohe Sterblichk­eit, gesundheit­liche Beeinträch­tigung vieler Menschen oder der drohende Kollaps des Gesundheit­ssystems eingefange­n sind, dann müssten die Maßnahmen für alle aufgehoben werden“, so Buyx.

Die zeitlich enge Taktung der jüngsten Empfehlung­en ist keineswegs selbstvers­tändlich. Üblicherwe­ise gibt der Rat ein bis zwei solcher Ad-hoc-Papiere pro Jahr heraus, in manchen Jahren auch keine. Das Tempo, in dem der Ethikrat derzeit Empfehlung­en vorlege, habe es so noch nicht gegeben, sagt Buyx. „Das liegt vor allem daran, dass alle Ratsmitgli­eder eine hohe Verantwort­ung spüren. Das ist insofern bemerkensw­ert, als der Ethikrat ein durch und durch ehrenamtli­ches Gremium ist – und

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