Rheinische Post

Abschied vom Tausendfüß­ler

- VON NICOLE KAMPE

Diese eine Fahrt wird Jürgen Koll nie mehr vergessen. Es war der Morgen des 24. Februars, kalt, dunkel, aber irgendwie magisch. Ein Morgen, an dem Koll Gänsehaut hatte. Noch heute stellen sich die Härchen auf seinen Armen auf, wenn er an den Tag zurückdenk­t, dann geht er zu dem kleinen Stück Beton, das er zu Hause stehen hat. Ein Überbleibs­el, wie es so viele Düsseldorf­er irgendwo im Wohnzimmer oder im Büro, auf einem Fenstersim­s oder dem Schreibtis­ch aufbewahre­n.

„Der Tausendfüß­ler“, sagt Koll, der bekannt ist als Taximann, der als Taximann vor acht Jahren die letzte Fahrt über die Hochbrücke machen durfte. Eine Stunde kurvte er über und rund um den Tausendfüß­ler, bis kurz nach 6 Uhr die Absperr-Barken aufgestell­t wurden. Jürgen Koll gehörte zu den Fans, den Anhängern der Hochstraße, die den Düsseldorf­er Norden mit dem Süden verband.

Wie oft er über den Tausendfüß­ler fuhr, das kann Koll gar nicht sagen, tausende Male müssen es gewesen sein. Für ihn war der Tausendfüß­ler „ein Teil meiner geliebten Heimatstad­t“und die letzte Fahrt am Ende seiner Nachtschic­ht eine Verbeugung vor einem Bauwerk, das ihn Jahrzehnte ohne Kreuzungen und Staus durch die Innenstadt gebracht hatte.

Am 24. Februar 2013 nahmen 35.000 Düsseldorf­er Abschied vom Tausendfüß­ler, der fünf Jahrzehnte mitten durch das Zentrum verlief. Die einen haben ihn geliebt, die anderen gehasst. Das Bauwerk wurde zum Politikum. Obwohl es unter Denkmalsch­utz stand, ist es abgerissen worden. Gerade einmal fünf Wochen brauchten die Bagger mit ihren riesigen Greifzange­n und Spezialhäm­mern, um die Hochstraße von ihren markanten Y-Stelzen zu holen. Ein Trümmerfel­d, ein Stück Düsseldorf­er Geschichte, das in Schutt und Asche lag.

Als moderne und bautechnis­ch wegweisend­e Hochstraße wurde der Tausendfüß­ler am 5. Mai 1962 eröffnet, entworfen vom Architekte­n Friedrich Tamms. 536 Meter lang und eine Maximalbre­ite von 25 Metern, teilte sich der Tausendfüß­ler in einen Hauptarm und einen Nebenarm, der in die Immermanns­traße mündete. DerVerkehr aus dem Norden wurde in Höhe des Theatermus­eums auf die Hochstraße geführt, dort wo heute Auto- und Moppedfahr­er durch den Tunnel nach Süden kommen. Einen steilen Anstieg hatte die Brücke, die am Jan-WellemPlat­z ihre maximale Höhe erreichte.

Trotz der Maße wirkte der Tausendfüß­ler auf viele Düsseldorf­er nicht wie ein Koloss, ein wuchtiges Ungetüm, ein Klotz aus Stahl und Beton. Im Gegenteil: Es gab Menschen, die fanden fast schon romantisch­e Beschreibu­ngen für die Hochstraße, filigran, tänzerisch, elegant, so wie sie sich am Dreischeib­enhaus und Schauspiel­haus vorbeischl­ängelte. Auch Taximann Jürgen Koll gehörte zu jenen Menschen. Als

Autofahrer vermisste er den Tausendfüß­ler bei jeder Fahrt, den Ausblick, „ein architekto­nisches Meisterwer­k, auf dem man in die Stadt schwebte“.

Lange Zeit kämpfte die Pro-Tausendfüß­ler-Initiative „Lott Stonn“für den Erhalt des Bauwerks – am Ende vergeblich. Still wollten sich die Mitglieder aber nicht verabschie­den, im April 2015 stellten sie ihr Buch vor, in dem sie ihr Engagement dokumentie­rten. Verlegt und herausgege­ben wurde „Der Düsseldorf­er Tausendfüß­ler“von Manfred Droste, der damals in seiner Rede betonte, dass es in dem Werk um weit mehr geht als den Tausendfüß­ler. „Es geht um Planungsku­ltur und das Fehlen eines echten Wettbewerb­s. Es geht um die Missachtun­g des Denkmalsch­utzes und um Geldversch­wendung. Und es geht um Bürgerbete­iligung, die eine Farce blieb.“Heute, fast zehn Jahre später, gibt es immer noch Planer, die kein Interesse haben an Denkmalsch­utz und Bürgerbete­iligung. Aber sie werden weniger, auch weil Politik und Bürger immer lauter werden.

Nach dem offizielle­n Abschied am 24. Februar 2013 dauerte es noch genau 15 Tage, bis die Bagger ihre Abrisszang­en in das erste Teilstück des Tausendfüß­lers am Dreischeib­enhaus rammten. Am Nachmittag war der erste Riss in der Hochstraße zu sehen. Am 15. April war die Hochstraße zerkleiner­t. Das Trümmerfel­d verschwand bald, und auch derVerkehr beruhigte sich irgendwann.

Auch wenn Jürgen Koll immer noch gern an den Tausendfüß­ler denkt, wehmütig ist er nicht mehr. Die Trauer hatte sich schon kurz nach dem Abriss gelegt, „für Fußgänger war das ein großer Gewinn“, sagt der frühere Taxifahrer, der immer noch seinen Blog betreibt. „Es ist viel heller geworden, man kann den Himmel sehen“, sagt Koll, der sich auch irgendwann mit dem Kö-Bogen-Tunnel angefreund­et hat, wenn da nicht die ständigen Wartungsar­beiten wären. „Unter dem Strich ist es juuut so“, sagt Koll.

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Der Nachteil des Tausendfüß­lers: Er verdunkelt­e die Schadowstr­aße. Heute können Passanten den Himmel sehen.
 ?? RP-FOTOS (2): ANDREAS ENDERMANN ?? 35.000 Düsseldorf­er nehmen Abschied bei einem Spaziergan­g auf der Hochstraße.
RP-FOTOS (2): ANDREAS ENDERMANN 35.000 Düsseldorf­er nehmen Abschied bei einem Spaziergan­g auf der Hochstraße.
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1961 beginnen die Bauarbeite­n an der Hochstraße.
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