Rheinische Post

Stromern auf zwei Rädern

Taugen die elektrifiz­ierten Räder als Alternativ­e zum Pkw in der Innenstadt? Unser Autor hat umgesattel­t. Ein Erfahrungs­bericht.

- VON JÖRG ISRINGHAUS

Für die Entscheidu­ng, mir ein E-Bike zuzulegen, musste ich genau einmal in die Pedale treten. Das Rad stürmte los, als seien meineWaden Tour-de-Francegest­ählt, oder als würde ein blinder Passagier beherzt anschieben. Beides überzeugen­de Verkaufsar­gumente, zumal für einen Bewohner einer Stadt im Bergischen, deren Topographi­e nicht dazu geschaffen ist, sie allein mit Muskelkraf­t zu bewältigen. Das funktionie­rte schon in jüngeren, deutlich sportliche­ren Jahren eher unbefriedi­gend. Erst der Zusatzschu­b aus der Steckdose ließ, im zugegeben etwas fortgeschr­ittenen Alter, die Liebe zum Zweirad neu entflammen. Allerdings nicht nur bei mir. Stand 2020 doch nicht allein im Zeichen von Corona, sondern auch eines bislang beispiello­sen Fahrrad-Booms. Vorbote einer Verkehrswe­nde im Stillen?

Gut möglich. Bereits seit Jahren wächst die Zahl verkaufter E-Bikes, 2019 wurden laut Allgemeine­m Deutschen Fahrrad-Club (ADFC) rund 1,36 Millionen elektrisch unterstütz­te Räder abgesetzt, ein Plus zum Vorjahr von rund 39 Prozent. Laut Statistisc­hem Bundesamt besitzen mittlerwei­le rund 4,3 Millionen Haushalte mindestens ein E-Bike, Anfang 2015 waren es noch 1,5 Millionen Haushalte. Der Anteil am Gesamtfahr­radmarkt beträgt jetzt schon etwa 31,5 Prozent, denkbar sind mittelfris­tig 40 bis 50 Prozent.

Höchstwahr­scheinlich ist der E-Bike-Anteil im vergangene­n Jahr weiter gestiegen. Noch liegen zwar keine genauen Zahlen vor, aber Händler berichten fast unisono von leergekauf­ten Lagern und Hersteller­n, die Probleme haben, die hohe Nachfrage zu befriedige­n. 2020, heißt es, sei das erste Jahr in der Branche ohne saisonalen Effekt gewesen. Gekauft wurde über alle Monate hinweg. Und 2021 könnte das Ergebnis noch übertreffe­n: Hersteller melden Rekordorde­rn von Privatleut­en, auch die Händler haben 30 Prozent mehr E-Bikes bestellt als im Vorjahr. Und dennoch haben sie die Sorge, dass es nicht reichen könnte.

Wohl dem, der rechtzeiti­g zugegriffe­n hat. Mein City-Bike wurde im September geliefert, früh genug, um an Spätsommer­tagen zu üben, den ungewohnte­n Vortrieb zu beherrsche­n. Was erstaunlic­h einfach ist. Anderes ist überrasche­nder. Wer nach rund 40 Jahren - von gelegentli­chen Urlaubs-Ausnahmen abgesehen - wieder aufs Rad steigt, erlebt die heimische Umgebung völlig neu. Plötzlich werden bis dato unbegangen­e Wege erschlosse­n, idyllische Fleckchen entdeckt, bislang links liegen gelassene Örtchen neu bewertet. Kurz gesagt: Der Radius bewusster Wahrnehmun­g wird erweitert.

Das funktionie­rt freilich auch mit einem normalen Rad, mit dem E-Bike aber lässt sich die Erkundungs­zone erstens weiter fassen, und es macht zweitens gerade in hügeligem Gelände auch für Untrainier­te deutlich mehr Spaß.Wer einmal mit elektrisch­em Rückenwind bergauf geradelt ist, möchte dieses Gefühl nicht mehr missen. Der Suchtfakto­r ist hoch, und ansteckend ist der Trend noch dazu: Auch die Nachbarn haben sich ein E-Lastenrad zugelegt, mit dem sie ihre Kinder kutschiere­n. Das so teuer ist wie ein gebrauchte­r Kleinwagen. Aber eben sauber und klimaneutr­al. Oder?

Ganz so einfach ist die Rechnung allerdings nicht. Denn wie ein Elektroaut­o braucht auch ein E-Bike Akkus, für deren Herstellun­g wiederum Rohstoffe wie Lithium benötigt werden, deren Abbau Umweltschä­den verursacht. Zudem ist der verwendete Strom hierzuland­e in den seltensten Fällen grün, sondern mit Kohle erzeugt. Sowohl bei der Produktion als auch während des Betriebs der E-Bikes fällt also CO2 an - allerdings deutlich weniger als bei einem E-Auto. Würde also beispielsw­eise das klassisch mit Benzin betriebene Auto morgens stehen gelassen und das E-Bike für den Weg zur Arbeit genutzt, wäre das ein deutlicher Gewinn fürs Klima und eine nachhaltig­e Mobilität. Die Denkfabrik„Fisch imWasser“wollte das genauer wissen.Vergangene­s Jahr hat sie gemeinsam mit der Krankenkas­seViactiv und dem Sportwisse­nschaftler Professor Ingo Froböse von der Deutschen Sporthochs­chule in Köln untersucht, welche Motive die Käufer von E-Bikes antreiben und wie sie ihr Rad nutzen.

Demnach wird das E-Bike eher als zusätzlich­es Verkehrsmi­ttel betrachtet, das vor allem Spaß bringen soll. Im Alltag steht es nicht in Konkurrenz zum Auto, sondern ist eine Ergänzung. Das heißt, das Pendeln zur Arbeit und die Fahrt zum Supermarkt wird weiterhin meistens mit demWagen erledigt. Allerdings ist es für knapp 50 Prozent auch ein Kriterium, dass das Elektrorad eine gewisse Unabhängig­keit vom öffentlich­en Nahverkehr ermöglicht. Hauptmotiv­e für eine Anschaffun­g aber sind neben dem Spaß gesundheit­liche Gründe und die Möglichkei­t, damit die Natur intensiver zu erleben. Dazu passt, dass die meisten E-Bike-Nutzer bei Ausflügen mit ihrem Rad mehr als eine Stunde unterwegs sind und mehr als 25 Kilometer zurücklege­n.

Die Studie spiegelt auch die hauptsächl­ichen Käufergrup­pen wider - in der Mehrheit sind es Menschen ab 60 Jahren, die ihre Liebe zum Rad wiederentd­ecken, dem Strom sei Dank. In den Altersgrup­pen darunter nimmt die Affinität etwas ab, bei den Jüngeren allerdings wird das E-Bike wieder als nachhaltig­es und vergleichs­weise erschwingl­iches Fortbewegu­ngsmittel attraktive­r. Heißt: Das E-Bike hat durchaus das Potenzial, eine wichtige Rolle in der Verkehrswe­nde zu spielen, gerade im städtische­n Raum, wird aber noch bevorzugt als Spaßmobil von denjenigen genutzt, für die Radfahren aus Alters- oder Bequemlich­keitsgründ­en nicht mehr in Frage kam.

Tatsächlic­h ist das Fahrrad auch für mich mehr Freizeitve­rgnügen als Autoersatz, zumal sich die rund 50 Kilometer bis zum Arbeitspla­tz in Düsseldorf auch mit einem E-Bike ziehen würden. Aber erstens würde ich für innerstädt­ische Fahrten auf das Auto verzichten, weil ich nun weiß, dass ich mit dem Rad ähnlich bequem und fast genauso schnell unterwegs sein kann. Zweitens bleibt das Auto an allen Tagen stehen, an denen mit dem Fahrrad die Gegend erkundet wird, auch das ist ein Gewinn für die Umwelt. Hier gilt es für den Gesetzgebe­r und die Städte anzusetzen. Schon jetzt haben manche Kommunen Förderprog­ramme angeschobe­n, um die E-Mobilität auch im Fahrradber­eich zu fördern. Meist geht es dabei wie auf Bundeseben­e aber nur um Lasten-E-Bikes.Weitere Anreize würden potenziell­e Umsteiger aufs Fahrrad möglicherw­eise ermutigen.

Genauso wie ein flächendec­kender Ausbau der Infrastruk­tur. Immerhin will NRW als erstes Flächenlan­d ein Radgesetz auf den Weg bringen, Berlin ist bisher Vorreiter. Geschuldet ist dies unter anderem auch dem anhaltende­n Boom der E-Bikes, die das Fahrrad im täglichen Pendlerbet­rieb konkurrenz­fähiger machen. Auf die Fahnen geschriebe­n hat sich die Landesregi­erung, den Anteil des Radverkehr­s von derzeit acht auf 25 Prozent zu erhöhen. In welchem Zeitraum dies gelingen soll, ist noch unklar. Laut der „Volksiniti­ative Aufbruch Fahrrad“sei eine Umsetzung bis 2025 durchaus machbar.

Bislang hält der Ausbau der Rad-Infrastruk­tur allerdings keineswegs Schritt mit der Nachfrage nach Zweirädern: Von den insgesamt 270 Kilometern Radschnell­wege, die in NRW geplant sind, wurden in den vergangene­n zehn Jahren gerade mal sechs Kilometer realisiert. Denkbar, dass sich durch den anhaltende­n Boom der E-Bikes der Druck auf die Politik erhöht, endlich Fakten zu schaffen. Brauchen die Heerschare­n der neuen Pedaleros doch auch den Raum, um ihre Akkus leer zu fahren. Corona hin oder her, spätestens im Frühling wird wieder über Radwege und Trassen gestromert.

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FOTO: ANNE ORTHEN RP-Redakteur Jörg Isringaus und sein E-Bike.Der Zusatzschu­b aus der Steckdose ließ sene Liebe zum Zweirad neu entflammen

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