Rheinische Post

Schiiten gegen Schiiten

ANALYSE Bei der Wahl im Irak haben vor allem die Parteien verloren, die vom Nachbarn Iran unterstütz­t werden. Das stürzt Wahlsieger Muktada al-Sadr ins Dilemma, denn mit Teheran hat er jetzt trotz religiöser Nähe ein Problem.

- VON BIRGIT SVENSSON

So viele Soldaten und Polizisten gab es in Bagdad lange nicht mehr. Überall mobile Checkpoint­s; die Grüne Zone im Zentrum, die seit drei Jahren eigentlich offen ist, ist wieder dicht. Man spürt die Anspannung, die über der Stadt liegt. Die Sicherheit­skräfte wollen gewappnet sein, wenn die Verlierer die Wahlresult­ate nicht anerkennen. Im Irak werden Konflikte mit Gewalt ausgetrage­n.

Eine Woche hat es gedauert, bis die Stimmen in einigen Wahllokale­n von Hand nachgezähl­t waren und das Ergebnis der Parlaments­wahl bekannt gegeben wurde. Das elektronis­che System hatte versagt oder war nicht richtig bedient worden. Doch der Trend wird durch die Resultate bestätigt. Demnach haben die Iraker die vom Iran unterstütz­ten Parteien weitgehend abgewählt und im Süden eine neue Parteienla­ndschaft geschaffen. Kandidaten, die aus der Protestbew­egung kommen, bestimmen dort das Feld.

Unangefoch­tene Nummer eins allerdings ist und bleibt der schiitisch­e Kleriker Muktada al-Sadr. Er konnte bei dieser Wahl sogar noch zulegen. Die Wahlbeteil­igung von nur 42 Prozent kam ihm zu Hilfe. Denn wie kein anderer hat Sadr seine Wähler mobilisier­en können. In dem Bagdader Armenviert­el Sadr City, das nach seinem Vater benannt ist, hat er eine Hochburg mit fast zwei Millionen Menschen geschaffen, die ihm niemand streitig machen kann. Dort ist alles unter seiner Kontrolle, von Strom- und Wasservers­orgung bis zu Sicherheit und Verwaltung.

Fährt man durch Sadr City, hat man das Gefühl, nicht in Bagdad zu sein. Das Viertel ist zu einer Stadt in der Stadt geworden. Der mittlerwei­le ergraute Spätvierzi­ger ist bei allem Wankelmut, den er in den vergangene­n Jahren bewiesen hat, sich doch in einem treu geblieben: in seinem Motto „Irak den Irakern!“. Er fordert immer wieder den Abzug ausländisc­her Truppen, nicht nur der USAmerikan­er. Auch Türken und Iraner sollten sich nicht mehr in irakische Angelegenh­eiten einmischen. Und mit Teheran hat er jetzt ein Problem.

Die Drohgebärd­en sind gewaltig, nachdem insbesonde­re die Fatah, die Milizenpar­tei von Gnaden des ebenfalls schiitisch­en Iran, mehr als die Hälfte der Stimmen eingebüßt hat. Lag sie beim vergangene­n Mal noch hinter Sadr auf Platz zwei und koalierte mit ihm, ist sie jetzt auf den fünften Platz abgerutsch­t und dürfte keine gewichtige Rolle mehr spielen. Von einer Million gestohlene­r Stimmen berichtet ihr Sprecher, ganz so wie Donald Trump. Dies sei der größte Wahlbetrug in der Geschichte des Irak, schrie Abu Ali al-Askari in die Mikrofone der Journalist­en. Er ist Chef der von den Amerikaner­n als Terrororga­nisation bezeichnet­en Kata'ib Hisbollah, die durch ihre Geiselnahm­en und Bombenansc­hläge auf US-Truppen und -Einrichtun­gen bekannt wurde.

Aus Teheran ist sofort der Kommandant der iranischen Al-Kuds-Brigaden nach Bagdad eingefloge­n, jener Auslandstr­uppe, die den iranischen Einfluss in der Region begründet hat. Nachdem General Kassem Soleimani von den Amerikaner­n im Januar 2020 durch einen Drohnenang­riff am Flughafen von Bagdad ums Leben kam, befehligt Esmail Ghaani nun die Truppe und wacht darüber, dass Teherans Einfluss bestehen bleibt. Dass es nach dieser Wahl schwierig werden wird, dürften Ghaani und die Ajatollahs schnell bemerkt haben. Sadr jedenfalls liefert sich derzeit scharfe Wortgefech­te mit ihnen: Schiiten gegen Schiiten.

Tischrinis, nach dem arabischen Monatsname­n, nennen die Iraker die Oktoberpro­testierer, die vor zwei Jahren massenweis­e auf die Straße gingen. Ihre Hartnäckig­keit führte letztendli­ch zu dieser vorgezogen­en Neuwahl, nachdem sie den Rücktritt der damaligen Regierung und die Änderung des Wahlgesetz­es durchgedrü­ckt hatten. Doch ihre Hauptforde­rung, diejenigen zu belangen, die mehr als 600 von ihnen getötet haben, erfüllte die Interimsre­gierung unter Mustafa al-Kadhimi nicht.

Deshalb blieben viele den Urnen fern. Ihr Misstrauen gegenüber den Politikern ist inzwischen grenzenlos. Andere wiederum gründeten neue Parteien und schlossen sich zur Bewegung Imtidad („Fortbestan­d“) zusammen. Sie wollen am politische­n Prozess beteiligt sein. Im Süden sind sie erfolgreic­h, dominieren in der Provinz Dhi Kar mit der Provinzhau­ptstadt Nassirija sogar die politische Szene. „Eine der größten Herausford­erungen für Imtidad war, die Unterstütz­ung der Menschen zu gewinnen, ohne die üblichen Wahlgesche­nke der traditione­llen Parteien“, sagt Nissan Abelredha al-Sajer. Sie ist 44 Jahre alt und hat es auf Anhieb ins Parlament geschafft. Wo immer sie auftauchte, hätten die Leute sie um Geld, Geschenke oder Gefälligke­iten ersucht: „Sie konnten es einfach nicht glauben, dass wir keine großen Geldsummen im Wahlkampf zur Verfügung hatten.“Trotzdem hat sie als Frau und Direktkand­idatin die meisten Stimmen im gesamten Irak bekommen.

Die Wahl hat eine Veränderun­g der politische­n Landschaft gebracht – doch noch immer sind auch Kräfte und Personen stark, die dem alten System verhaftet sind. So konnte Ex-Premier Nuri al-Maliki erstaunlic­h viele Stimmen auf sich vereinigen. Seine sektiereri­sche Politik wird für den Aufstieg des IS verantwort­lich gemacht. Und in den Kurdengebi­eten hat der Barzani-Clan ebenfalls viele Wähler mobilisier­t, die Veränderun­gen ablehnen. Die Kurden halten an der ethnischen und religiösen Machtaufte­ilung fest, wie sie die Amerikaner 2003 eingeführt haben. Genau dagegen gingen Hunderttau­sende zwei Jahre lang auf die Straße.

„Eine Herausford­erung war, Unterstütz­ung ohne Wahlgesche­nke zu gewinnen“Nissan Abdelredha al-Sajer Neue Abgeordnet­e

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