Die Kunst des Kompromisses
ANALYSE Die Regierungsbildung läuft. In diesen Tagen müssen Politiker ihre Fähigkeit zum Ausbalancieren beweisen. Doch was ist ein gutes Ergebnis, was ist der Unterschied zum Kuhhandel, und was haben Nichtwähler damit zu tun?
„Abstriche von den Maximalforderungen sind nichts Schlechtes“Andreas Weber Philosoph
Nun geht es also ans Eingemachte. Die Parteien müssen sich zur Regierungsbildung auf gemeinsame Ziele einigen. Die erste Etappe ist geschafft, jetzt können die eigentlichen Koalitionsverhandlungen beginnen. Das bedeutet: SPD, Grüne und FDP müssen abrücken von dem, was sie in ihren Wahlprogrammen als Maximalforderungen aufgeschrieben haben – zumindest in Teilen. Vernünftigen Ausgleich widersprüchlicher Interessen nennt man das in der Theorie. Und natürlich geht es in der Politik nicht ohne Kompromisse. Doch in der Praxis können sie wehtun – und dem Ansehen schaden, wenn die Verhandler nicht nur Nebensächlichkeiten aufgeben müssen, sondern Forderungen, an denen ihre Identität hängt. Und für die sie gewählt wurden.
Darum besteht die Kunst des Kompromisses zum einen darin, das Geben und Nehmen, das Durchsetzen und Einlenken in eine gute Balance zu bringen. Alle Beteiligten müssen das Gefühl bekommen, in vergleichbarer Weise Abstriche machen zu müssen. Nur wenn keiner sich über den Tisch gezogen fühlt, entsteht überhaupt ein Kompromiss. Alles andere ist Trickserei. Oder noch undurchsichtiger: Kuhhandel. Damit das gelingt, müssen die Voraussetzungen stimmen. Müssen Vertrauen geschaffen und ein gemeinsames Ziel ausgegeben werden. Darum ergaben die „Vorsondierungen“durchaus Sinn.
„Um einen guten Kompromiss zu schließen, müssen alle Beteiligten die Chance bekommen, ihre Positionen klar darzulegen, und dürfen nichts verschweigen. Erst dann können sie sich in einem gemeinsamen Handeln treffen, bei dem sie das verbindende Menschliche nicht verlassen“, sagt der Philosoph
Andreas Weber. Kompromisse seien „organisierte Beziehungsstiftung“. Wenn es eine gemeinsame Basis gebe – Hannah Arendt hat dafür den Begriff des Zusammenhandelns geprägt –, könnten alle Beteiligten Abstriche machen, die für jeden Kompromiss nötig sind.
„Abstriche von den Maximalforderungen sind nichts Schlechtes“, sagt Weber. Sie seien im Gegenteil das Zeichen dafür, dass Politiker unterschiedlicher Parteien beziehungsfähig seien. „In unserer polarisierten Zeit wird Nachgeben aber oft als Schwäche dargestellt. Der Kompromiss ist fast schon gleichbedeutend geworden mit dem ‚faulen Kompromiss', dabei liegt in der Fähigkeit, Kompromisse zu schließen, eine große Stärke.“Weber sieht in gemeinsamem Handeln das Grundgeschäft des Politischen, nicht im unverwässerten Durchdrücken von Interessen, doch werde das in den Medien oft anders dargestellt, und entsprechend verhielten sich Politiker dann auch.
Allerdings: Wähler sehen es nicht gern, wenn „ihre Partei“von dem abrückt, was sie vor der Wahl versprochen hat. Für die Macht tun die alles, heißt es dann oft. Obwohl das Streben nach Macht kein Makel ist, sondern Voraussetzung für jedes Handeln. Der Kompromiss ist also nicht schädlich für die Demokratie – gefährlicher ist es, wenn ein Teil der Bevölkerung sich in dem, was die Parteien aushandeln, nicht wiederfindet. Wenn die Bürger das Gefühl haben, über ihre Themen werde nicht gesprochen. Ihre Anliegen seien gar nicht Teil der Verhandlungsmasse. Dann erscheint der komplizierte Prozess, der jetzt zu erleben ist, nicht als Inbegriff demokratischen Handelns, sondern als abgekartetes Spiel ferner Eliten.
„Das aktuelle Ergebnis zwingt Parteien aus unterschiedlichen Lagern zusammen, die zum Teil nicht wirklich zueinander passen. Was sie aushandeln, kann bei den Anhängern also Enttäuschung auslösen“, sagt Armin Schäfer, Politikwissenschaftler von der Uni Münster. Menschen, die sich und ihre Anliegen im Politikbetrieb wenig repräsentiert fühlen, gingen oft nicht zur Wahl – dauerhaft oder temporär. Unter den Nichtwählern seien mehr Menschen mit geringem Einkommen, geringer Bildung, mit Berufen von geringerem Status. Umfragen zeigen, dass diese Menschen sich nicht gehört fühlen. Auf die Frage, ob sie das Gefühl hätten, auf Politik Einfluss nehmen zu können, antworten sie häufiger mit Nein.
Für diese Bevölkerungsgruppe habe es im Wahlkampf etwa mit dem Thema Mindestlohn Angebote gegeben, sagt Schäfer – seine Anhebung steht im Sondierungspapier. Aber: „Wenn man die Entscheidungen des Bundestages über einen langen Zeitraum betrachtet, sind mehr Gesetze verabschiedet worden, die Menschen mit hoher Bildung und überdurchschnittlichem Einkommen wollen“, sagt Schäfer. „Das Gefühl von Menschen mit niedrigem Einkommen, nicht gut vertreten zu werden, hat eine reale Grundlage.“
Auch die Frage der Repräsentanz spielt beim Kompromisseschmieden also eine Rolle. Dass sich die kulturelle Vielfalt der Gesellschaft in den Sondierungsteams nicht wiederfand, wurde bereits kritisiert. Doch auch im Bildungsgrad unterscheiden sich Politiker deutlich vom Rest der Bevölkerung. Ein Drittel der Deutschen hat Abitur, knapp 29 Prozent einen Hauptschulabschluss. Unter denen, die jetzt Kompromisse verhandeln, ist das abgebrochene Studium schon der niedrigste Bildungsgrad. Es gibt eine soziale Distanz zur Bevölkerung. Politiker müssten also Interessen berücksichtigen, für die gar kein Vertreter mit am Tisch sitzt.
In den Sondierungen und den Koalitionsverhandlungen zeigt sich, wie stark die Basis ist, auf der die Verhandler ihre Vorhaben in Einklang bringen müssen. Und wie gut der Rest der Gesellschaft mit den Kompromissen leben kann.