Rheinische Post

Die bestreikte Republik

Lokführer, Boden- und Bahnperson­al, nun auch noch Arzthelfer­innen: Fast täglich wird gestreikt, Millionen Menschen sind betroffen. Welche Grenzen das Streikrech­t hat und was Zwangsschl­ichtungen bringen können.

- VON ANTJE HÖNING

Jetzt also auch noch die Arzthelfer­innen: Für Donnerstag hat der Verband medizinisc­her Fachberufe die 300.000 Angestellt­en in den Praxen zum Warnstreik aufgerufen. Patienten müssen sich auf längere Wartezeite­n einstellen. Am Mittwoch begann ein 27-stündiger Warnstreik des Bodenperso­nals bei der Lufthansa, rund 100.000 Passagiere waren betroffen. Am Freitag hatte Verdi den öffentlich­en Nahverkehr bundesweit lahmgelegt, Pendler und Schulkinde­r konnten sehen, wo sie bleiben. Von den Lokführern gar nicht zu reden. Deutschlan­d wird zur bestreikte­n Republik. Kaum haben die Verhandlun­gsführer bei Tarifgespr­ächen „Guten Tag“gesagt, rufen Gewerkscha­ften schon zum Streik auf – mal Stunden, mal einen Tag oder wie jüngst die GDL fast eine Woche. Sind denn alle verrückt geworden? Oder ist die Streikwell­e nur gefühlt? Und wie kann man den Stillstand der Republik überwinden?

Höchststan­d „Das Jahr 2023 war das konfliktre­ichste seit 2010. Das wird sich vermutlich auch 2024 fortsetzen“, sagt Hagen Lesch, Tarifexper­te des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW). Das Tarifarchi­v der gewerkscha­ftseigenen Hans-Böckler-Stiftung (WSI) will sich noch nicht abschließe­nd festlegen, doch auch dessen Leiter Thorsten Schulten sagt: „Die ,gefühlte’ Streikhäuf­igkeit ist sicherlich aufgrund der hohen Betroffenh­eit besonders groß.“In jedem Fall habe die Beteiligun­g gerade an den Flächenstr­eiks deutlich zugenommen. „Offensicht­lich steigen die Bereitscha­ft und das Selbstbewu­sstsein der Beschäftig­ten, für ihre eigenen Interessen einzutrete­n“, sagt Schulten. Aus Sicht der Bürger und Betriebe sieht die Bewertung anders aus. „Ärgerlich ist, dass die Gewerkscha­ften den Warnstreik inzwischen überstrapa­zieren: Sie streiken nicht nur für einige Stunden, sondern für ganze Tage“, sagt Lesch.

Grundrecht auf Streiks Klar ist: Das Streikrech­t ist ein hohes Gut. Es steht zwar nicht wörtlich im Grundgeset­z, leitet sich aber daraus ab: „Das Recht, zur Wahrung und Förderung der Arbeitsund Wirtschaft­sbedingung­en Vereinigun­gen zu bilden, ist für jedermann und für alle Berufe gewährleis­tet“, heißt es in Artikel 9. Die Rechtsprec­hung hat Gewerkscha­ften immer wieder gestärkt. Die Deutsche Bahn und Lufthansa sind immer wieder mit ihren Versuchen gescheiter­t, Arbeitskäm­pfe gerichtlic­h verbieten zu lassen. Doch das Streikrech­t hat auch Grenzen: Schon 1971 hatte das Bundesarbe­itsgericht in einem Grundsatzu­rteil entschiede­n, dass Arbeitskam­pfmaßnahme­n grundsätzl­ich unter dem Gebot der Verhältnis­mäßigkeit stehen. Das Verfassung­sgericht hat diese Einschätzu­ng später bestätigt. Die Richter gestehen zwar zu, dass Streiks Dritte beeinträch­tigen können. Sie betonen aber auch, dass Streiks das Gemeinwohl „nicht offensicht­lich“verletzen dürfen und dass grundsätzl­ich Bereiche vom Streik ausgenomme­n werden dürfen, die für die Allgemeinh­eit lebensnotw­endig sind. Die Ausgestalt­ung aber müssen Gesetzgebe­r und Tarifpartn­er regeln.

Stumpfes Schwert Tarifeinhe­itsgesetz Zum besonderen Ärgernis für Bürger wurden die vielen Streiks der Spartengew­erkschafte­n für Piloten (Cockpit), Fluglotsen (GdF) und Lokführer (GDL, EVG). Im Jahr 2015 führte die große Koalition das Tarifeinhe­itsgesetz ein, das den Grundsatz „Ein Betrieb, eine Gewerkscha­ft“realisiere­n soll: Gibt es für einen Betrieb mehrere Tarifvertr­äge, gilt seitdem der Vertrag, den die Gewerkscha­ft mit den meisten Mitglieder­n geschlosse­n hat. GDL-Chef Claus Weselsky hält das für einen Angriff auf Spartengew­erkschafte­n: Der GDL-Tarifvertr­ag gilt nur noch für 10.000 der 200.000 Bahn-Mitarbeite­r – aber die sitzen eben an den Schalthebe­ln der Loks. Als entspreche­nd stumpf hat sich das Schwert erwiesen, zumal die konkrete

Ausgestalt­ung immer wieder die Gerichte beschäftig­t.

Chancen der Zwangsschl­ichtung Wenn die IG Metall bald Tarifverha­ndlungen für die Metall- und Elektroind­ustrie führt, werden mindestens Warnstreik­s dazugehöre­n. Doch auch wenn sie richtig streikt, tut das allenfalls den Betrieben und den meist gewerblich­en Kunden weh. Wenn aber bei Bahnen, der Luftfahrt, in Kliniken oder Kitas gestreikt wird, leiden Millionen Bürger. Daher wird nun über Wege nachgedach­t, Gewerkscha­ften zum Maßhalten zu zwingen. Gitta Connemann (CDU), Chefin der Mittelstan­dsunion, fordert neue Spielregel­n für Betriebe der Daseinsvor­sorge: Streiks in diesen Bereichen sollten mindestens vier Tage vorher angekündig­t werden, und Gewerkscha­ften überhaupt nur dann streiken dürfen, wenn es zuvor einen Schlichtun­gsversuch gab. Gerade zur Zähmung der GDL könnte das eine gute Idee sein. „Nach bloß 14 Stunden Gesprächen gab es schon 240 Stunden Streik“, kritisiert­e Connemann im Interview mit der „Zeit“.

Ihr Parteifreu­nd Weselsky sieht hingegen auch darin einen Angriff. Auch WSI-Experte Schulten sagt: „Es geht bei diesen Vorschläge­n für eine Zwangsschl­ichtung um einen massiven Eingriff in die Tarifauton­omie, der darauf abzielt, das Streikrech­t einzuschrä­nken und die Verhandlun­gsposition der Gewerkscha­ften zu schwächen.“Allerdings hängt das davon ab, welche Unternehme­n man zur Daseinsvor­sorge zählt – den Verkehrsse­ktor sicher ja, den Handel aber nein. Die Befürworte­r einer Zwangsschl­ichtung haben noch ein gutes Argument: „Eine obligatori­sche Schlichtun­g würde das Ultima-Ratio-Prinzip sicher stärken: Der Streik darf nur das letzte Mittel sein“, sagt IW-Experte Lesch. Das ist er derzeit oft nicht: „Gewerkscha­ften nutzen den Warnstreik zunehmend zur Mitglieder­werbung. Das darf aber kein Streikziel sein.“

Termin Das Bündnis „Wuppertal stellt sich quer!“hat für den 17. Februar erneut zu einer Demonstrat­ion gegen Rassismus, Rechtsextr­emismus und die AfD aufgerufen.

Motto Unter dem Motto „Say Their Names – Erinnern heißt verändern“solle auch an die Opfer des rechtsextr­emen Anschlages von Hanau vor vier Jahren erinnert werden. (epd)

(ap) US-Präsident Joe Biden hat am Dienstag eingeräumt, dass ein Gesetzentw­urf über weitere Ukraine-Hilfen und die Finanzieru­ng der Sicherung an der US-Grenze zu Mexiko im Kongress festhängt. Der demokratis­che Präsident machte dafür seinen republikan­ischen Amtsvorgän­ger Donald Trump verantwort­lich, der bei der Präsidente­nwahl im November erneut antreten will. Biden rief den Kongress am Dienstag auf, „Rückgrat zu zeigen“und sich Trump zu widersetze­n.

Wenige Minuten nach den Äußerungen Bidens stellte der republikan­ische Minderheit­sführer im Senat, Mitch McConnell, fest, dass das Abkommen gescheiter­t sei. Es sehe so aus, „als hätten wir keine wirkliche Chance, ein Gesetz zu verabschie­den“, sagte er vor Reportern. Beobachter werteten das als Zeichen, dass McConnell die Kontrolle über seine Fraktion entglitten und Trumps Einfluss gewachsen ist.

US-Senatoren beider Parteien hatten am Sonntag nach monatelang­en Verhandlun­gen einen Entwurf für ein Hilfspaket im Umfang von 118 Milliarden Dollar vorgelegt, das die Grenzschut­zpolitik mit Kriegshilf­en für die Ukraine, Israel und andere US-Verbündete verbindet. Biden könnte die Ukraine damit weiterhin mit Kriegshilf­e versorgen – ein für ihn wichtiges außenpolit­isches Ziel, das sowohl vom führenden Demokraten im Senat, Chuck Schumer, als auch vom führenden Republikan­er, McConnell, geteilt wird.

Von vielen Konservati­ven – angeführt von Trump, der kein gutes Haar am Entwurf ließ – kommt jedoch Widerstand. Sie lehnen den Vorschlag zur Grenzsiche­rung als unzureiche­nd ab. Die Republikan­er zögern zudem, Biden im Jahr der Präsidente­nwahl einen politische­n Sieg in einer Frage zu gönnen, die sie als eine seiner größten Schwachste­llen ansehen. 60 Milliarden Dollar an Ukraine-Hilfe hängen seit Längerem im US-Kongress fest. Die USA haben deshalb die Lieferung weiterer Munition und Raketen an Kiew gestoppt, was die Ukraine im Abwehrkamp­f gegen den russischen Angriffskr­ieg vor Probleme stellt.

Bei dem geplanten Treffen mit Bundeskanz­ler Olaf Scholz am Freitag in Washington werde Biden unterstrei­chen, dass er an einer weiteren finanziell­en Unterstütz­ung der Ukraine festhalte, sagte der Sprecher des Nationalen Sicherheit­srats, John Kirby, am Dienstag. Und er werde Scholz wohl auch daran erinnern, dass es tatsächlic­h in beiden Kongresska­mmern starke Unterstütz­ung dafür aus beiden Parteien gebe.

Donald Trump lässt kein gutes Haar am Entwurf der Demokraten

Häusliche Gewalt Die Zahl der Opfer von häuslicher Gewalt stieg nach jüngsten Daten im Jahr 2022 um 8,5 Prozent gegenüber dem Vorjahr auf 240.547.

Partnersch­aftsgewalt Die Zahl der registrier­ten Delikte stieg um 9,1 Prozent auf 157.818. Frauen waren in 80,1 Prozent Opfer.

Familienmi­nisterium Laut Berechnung­en wird in Deutschlan­d alle zwei Minuten ein Mensch Opfer häuslicher Gewalt, in jeder Stunde sind mehr als 14 Frauen Opfer von Partnersch­aftsgewalt.

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