Rafah gerät an seine Grenze
Auf der Flucht vor den israelischen Angriffen sind bereits Zehntausende Palästinenser in Richtung Ägypten geflohen. Nicht nur dort stellt man sich die Frage: Was passiert, wenn die Menschen die Absperrungen durchbrechen?
Die ägyptischen Politiker sind nervös. US-Außenminister Anthony Blinken auch. Der reist gerade von einem zum anderen: erst Saudi-Arabien, dann Ägypten, Katar, Israel und schließlich das Westjordanland. Er muss eine Feuerpause arrangieren, einen Gefangenenaustausch zwischen Israel und der Hamas. Sonst droht ein Desaster. Israels Verteidigungsminister Joaw Gallant wird in den vergangenen Tagen nicht müde zu betonen, dass seine Armee nun auf Rafah vorrücke, nachdem sie in Chan Junis fertig sei. Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu hat am Mittwoch die Armee angewiesen, einen Einsatz in der Stadt Rafah im Süden des Gazastreifens „vorzubereiten“. Auf die „bizarren Forderungen“der Hamas für eine Waffenruhe einzugehen, werde „nur zu einem weiteren Massaker einladen“.
Rafah ist zweigeteilt: Der eine Teil liegt im Gazastreifen, der andere in Ägypten auf der Halbinsel Sinai. Die Grenze zwischen beiden Stadtteilen droht zur Schicksalsfrage zu werden. Im palästinensischen Rafah gibt es nur drei Kliniken von 18 im gesamten Gazastreifen. Es ist schwer zu sagen, wie viele noch funktionsfähig sind. Die israelische Armee hat einige bombardiert. Marwan Al Hams ist Leiter des gesundheitlichen Notdienstes in Rafah und malt ein düsteres Bild. Mittlerweile soll schon die Hälfte der 2,2 Millionen Einwohner des Gazastreifens in der südlichsten Stadt angekommen sein. Vertrieben aus dem Norden, fliehen die Menschen jetzt auch aus dem Flüchtlingslager Chan Junis, wo die meisten untergekommen waren. Al Hams spricht am Telefon von „einer verheerenden Überfüllung“, die schlimme gesundheitliche Probleme mit sich bringe.
Das Abu-Youssef-Al-Najjar-Krankenhaus, in dem Al Hams arbeitet, verzeichnet einen steilen Anstieg bei den Fallzahlen von Diarrhö, Influenza, Bronchitis und Magen- und Darm-Infektionen bei Kindern, Frauen und älteren Menschen. Die Kinder verzeichneten außerdem schwere Dehydrierung und Anämie aufgrund von Unterernährung. Cholera und Hepatitis würden eingeschleppt. Letztendlich, prophezeit der Arzt, gäbe es keinen Ausweg aus dem Dilemma, als dass die Grenze zu Ägypten geöffnet werde. Davor haben die Ägypter Angst.
Bundesaußenministerin Annalena Baerbock reagierte schnell, als Israels Verteidigungsminister ankündigte, die Offensive der Armee könnte im Süden des Gazastreifens auch Rafah erreichen. „Mit Schrecken“habe sie dies vernommen. Denn jeder ahnt, was dann passieren wird. Den Grenzübergang Rafah kontrollieren ägyptische und palästinensische Beamte, wobei Letztere unter der Kontrolle der Hamas stehen. Die israelische Führung vermutet, dass Tunnel, die unter der Grenze zwischen Ägypten und Gaza verlaufen, nach wie vor dem Schmuggel von Gütern und Waffen für die Hamas dienen.
Für Ägypten als Anrainerstaat zum Gazastreifen wird die Lage brenzliger. Während die Kämpfe anfangs im Norden des Landstrichs tobten, bombardiert die israelische Armee jetzt immer intensiver den Süden. Dort wird der Drahtzieher des Massakers vom 7. Oktober, Yahya Sinwar, vermutet. Sollten die Kämpfe sich auf Rafah konzentrieren, bleibt für die mehr als eine Million Menschen dort nur noch ein Ausweg zur Flucht: die Grenze zu
Ägypten. Was, wenn plötzlich eine Million Palästinenser den Grenzübergang stürmen?
In Kairo ist man ratlos oder hält sich mit der Antwort bedeckt. Auf die Palästinenser zu schießen, käme nicht infrage. Auch in Ägypten gibt es immer wieder Demonstrationen für die „Brüder und Schwestern im Gazastreifen“. Doch als bei den Protesten auch Stimmen laut wurden, Militärmachthaber Abdel Fattah al-Sisi solle abtreten, wurden die Demonstrationen kurzerhand verboten. Jetzt laufen die Drähte heiß, schnell eine Feuerpause zu verhandeln.
Doch die Positionen sind kontrovers. Wie ein Unterhändler in Kairo vertraulich berichtet, wollen Hamas und andere bewaffnete Gruppen wie der „Islamische Dschihad“keine kurzfristige Lösung akzeptieren. Jetzt soll die Freilassung der verbliebenen israelischen Geiseln mit einem permanenten Waffenstillstand verknüpft werden. Netanjahu dagegen hat wiederholt gesagt, der Krieg werde noch Monate dauern und seine rechtsgerichtete Regierung will der Hamas künftig keine Rolle im Gazastreifen zugestehen.
Bei einer Konferenz in Jerusalem Ende vergangener Woche trafen sich israelische Politiker, die für ihre extremistische Haltung bekannt sind. Es ging um die Zukunft des Gazastreifens. Unter ihnen Sicherheitsminister Itamar Ben-Gvir, der eine Rückkehr jüdischer Siedler in den Gazastreifen nach Kriegsende fordert. Er rief dazu auf, die palästinensische Bevölkerung zu „ermutigen, in andere Länder der Welt auszuwandern“. Die Forderungen sind sowohl von arabischen Staaten als auch von den USA – Israels wichtigstem Verbündeten – kritisiert worden. Israels Verteidigungsminister will seiner Armee jedoch „Handlungsfreiheit im Gazastreifen“sichern, um jede mögliche „Bedrohung“im Keim zu ersticken. Netanjahu dagegen will „keine längerfristige Präsenz Israels“im Gazastreifen.
Während also noch abgewogen wird, was mit dem Gazastreifen geschehen soll, schafft die Armee Tatsachen und drängt immer mehr Palästinenser in Richtung Grenze.
(dpa) Die EU-Kommission wirft Ungarn erneut vor, mit einem Gesetz europäisches Recht zu verletzen und leitet deswegen ein Verfahren ein. Das kürzlich in Budapest verabschiedete Gesetz zur Verteidigung der nationalen Souveränität verstoße unter anderem gegen Grundsätze der Demokratie, der freien Meinungsäußerung und der Vereinigungsfreiheit, teilte die Brüsseler Behörde am Mittwoch mit. Sie habe Ungarn deswegen um Stellungnahme gebeten und damit ein sogenanntes Vertragsverletzungsverfahren eingeleitet.
Mit dem im Dezember verabschiedeten Gesetz wurde ein neues „Amt für Souveränitätsschutz“eingerichtet, das eventuelle Bedrohungen Ungarns aus dem Ausland überwachen soll. Das bereits geltende Verbot der Parteienfinanzierung aus dem Ausland wurde damit auf Vereine und andere Organisationen ausgeweitet. Verantwortlichen dieser Organisationen, die versuchen, Finanzquellen aus dem Ausland zu verschleiern, drohen zudem drei Jahre Freiheitsentzug.
Ungarn muss nun innerhalb von zwei Monaten auf die neuerlichen Vorwürfe reagieren. Kann das Land sie nicht entkräften, kann die EU-Kommission vor dem Europäischen Gerichtshof gegen Ungarn klagen. Im Fall einer Verurteilung würde dem Mitgliedstaat dann bei einem weiteren Festhalten an dem Gesetz eine Geldstrafe drohen.
Es ist nicht das erste Mal, dass die für die Einhaltung von EU-Recht zuständige EU-Kommission gegen das Land wegen Bedenken am Zustand des Rechtsstaats ein Verfahren einleitet. Im Dezember hatte sie allerdings auch zehn Milliarden Euro an eingefrorenen Geldern für Ungarn freigegeben mit der Begründung, dass der ungarische Regierungschef Viktor Orbán die dafür nötigen Reformen umgesetzt habe.
Das Land hat nun zwei Monate Zeit, um auf die neuerlichen Vorwürfe zu reagieren