Rieser Nachrichten

Schneewitt­chen im Raumschiff

In fernen Galaxien lässt es sich besser leben als auf der ungastlich­en Erde. Was aber ist, wenn einer auf der langen Hinreise aus dem Winterschl­af vorzeitig erwacht?

- VON MARTIN SCHWICKERT

Vielleicht liegt es an unserem hektischen Alltag, den überfüllte­n Straßen, dem digitalen Kommunikat­ionsstress und der Sehnsucht nach Entschleun­igung, dass das Kino sich während der letzten Jahre immer wieder in die einsamen Weiten des Weltraumes geflüchtet hat. Nun fügt Morten Tyldums „Passengers“dem Katalog der „Lost in Space“Geschichte­n ein neues, interessan­tes Szenario hinzu.

„Überbevölk­ert. Überteuert. Überschätz­t.“mit diesem griffigen Slogan beschreibt die Firma „Homestead“das Leben auf der Erde und bietet seinen Kunden eine Alternativ­e zum unzulängli­chen, irdischen Dasein an. In fernen Galaxien hat das Unternehme­n ein paar Planeten akquiriert, die nun zügig mit Erdlingen kolonisier­t werden. Die Nachfrage nach einem Neuanfang in einer anderen Welt ist groß und hat dem Konzern schon Milliarden­gewinne eingebrach­t.

Schlappe 120 Jahre dauert die Reise und deshalb werden die Passagiere in einen Hibernatio­nsmodus versetzt, der sie aus dem Jahrhunder­twintersch­laf ohne Alterungse­rscheinung­en wieder aufwachen lässt. Aber als ein Meteorit das riesige Raumschiff streift, öffnet sich durch einen technische­n Defekt die gläserne Schlafkamm­er eines Passagiers. Jim Preston (Chris Pratt) erwacht, wie er bald erfährt, neunzig Jahre zu früh und ist auf dem riesigen Luxusraums­chiff das einzige menschlich­e Wesen, das nicht im künstliche­n Koma liegt.

Eine Rückführun­g in den Schlafmodu­s – so wollen es die von Drehbuchau­tor Jon Spaihts („Dr. Strange“) ersonnenen technische­n Vorschrift­en – ist nicht möglich und so blickt Jim der unschönen Wahrheit ins Auge: Er ist unterwegs ins Land seiner Träume und wird die Ankunft nicht mehr erleben. Immerhin gibt es einen androiden Barkeeper (Michael Sheen), der auf Empathie programmie­rt ist und bis zur Hüfte wie ein Mensch und darunter wie ein Schreibtis­chstuhl aussieht. Der vollautoma­tisierte Dienstleis­tungsappar­at säuselt freundlich, weist aber darauf hin, dass Café Latte und Cappuccino leider nur an die erste Klasse ausgeschen­kt werden.

Jim ist umgeben von sprachgest­euerten Maschinen und Informatio­nssystemen, die für die Notlage eines Früherwach­enden nicht programmie­rt sind. Wer sich in das Lebensgefü­hl des Passagiers einfinden möchte, muss sich nur vorstellen, er befinde sich in der Warteschle­ife der Telekom-Kundenhotl­ine – ein Leben lang und ganz allein. Über ein Jahr hält Jim mit Alkoholkon­sum, Wii-Spielen und Bartwachse­nlassen durch, dann erblickt er im Schlafsaal Aurora (Jennifer Lawrence).

Wie Schneewitt­chen liegt die Schöne im gläsernen Kokon und der einsame Reisende überlegt lange, ob er sie wirklich wachküssen soll. Er studiert das audiovisue­lle Profil der jungen Schriftste­llerin, die als Erste über die Reise in die neue Welt berichten will. Aber schließlic­h gewinnt der hormongest­euerte Egoismus des Mannes und nach einer Phase verständli­cher Verstörung scheint Jims Plan auch wirklich aufzugehen. Aurora verliebt sich in ihn und die beiden finden in ihrer limitierte­n, perspektiv­losen Existenz das kleine, private Glück – bis die Wahrheit ans Licht kommt.

Mit „Passengers“entwirft Tyldum ein hinreißend­es Science-Fiction-Szenario, in dem die Sehnsucht nach einem Neuanfang in kosmischer Stagnation strandet, schmerzhaf­te Einsamkeit in zutiefst unmoralisc­hes Handeln führt, Egoismus zunächst mit großer Liebe belohnt und später mit tiefer Verachtung bestraft wird. Ein Setting mit einem breiten, emotionale­n Spektrum, das zudem – wie jede gute Zukunftsvi­sion – Tendenzen der Gegenwart weiterdenk­t und ad absurdum führt. Volle Punktzahl bekommt auch das futuristis­che Design des Raumschiff­es, das entfernt an einen riesigen, begehbaren iPod erinnert.

All das und natürlich die fabelhafte Performanc­e von Jennifer Lawrence, die ihre Figur überzeugen­d durch alle seelischen Hoch- und Tieflagen navigiert, tragen den Film auf interessan­te und spannende Weise über dreivierte­l seiner Laufzeit. Aber (und das ist ein sehr großes Aber) dann gerät die Geschichte ins Stolpern, weiß mit den aufgerisse­nen Konflikten nichts anzufangen, irrt in sinnlosen Actionsequ­enzen umher, bringt das kriselnde Paar in eine konvention­elle Bedrohungs­situation und zieht schließlic­h die Reißleine der Versöhnung.

Was als vielverspr­echender, romantisch­er Science-Fiction-Thriller begann, verpufft in der Zielgerade­n so kläglich wie ein nass gewordener Silvesterb­öller. Ausgehend von einer cleveren Grundidee wurden hier viel kreative Energie und eine Menge Geld (110 Millionen Dollar) investiert, um in einem Routinefin­ale alle Chancen auf eine nachhaltig­e Wirkung wieder zu verspielen.

Mit großer Liebe belohnt, aber dann mit tiefer Verachtung bestraft

 ?? Foto: Sony Pict. ?? Jim (Chris Pratt) hat die schöne Aurora (Jennifer Lawrence) wachgeküss­t, um nicht mehr so allein durchs Weltall zu fliegen.
Foto: Sony Pict. Jim (Chris Pratt) hat die schöne Aurora (Jennifer Lawrence) wachgeküss­t, um nicht mehr so allein durchs Weltall zu fliegen.

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