Rieser Nachrichten

Kaufen! Sie! Jetzt!

Viele denken bei Teleshoppi­ng an Bauch-weg-Gürtel, Schlankstü­tz-Leggins oder Sandwich-Toaster. Doch während traditione­lle Geschäfte zunehmend über Umsatzeinb­ußen klagen, boomt das Verkaufsfe­rnsehen. Da fragt man sich: Warum nur?

- VON SARAH SCHIERACK

Es ist kurz nach halb acht abends, als Judith Williams den Zuschauern ein Geheimnis verrät. Sie wedelt mit einer Wimpernbür­ste, zwinkert in die Kamera und sagt: „Ich kenne ja ein paar Männer, die sich Mascara in den Bart tupfen – um die grauen Stellen abzudecken.“Moderator Christian Materne setzt ein ungläubige­s Gesicht auf. „Nicht im Ernst!“Williams nickt eifrig. „Weißt du eigentlich, wie viele Männer sich die Wimpern tuschen?“Sie macht eine Kunstpause. „Und es sieht fantastisc­h aus!“

Ein Studio in Ismaning, am Stadtrand von München. Hier entsteht die perfekte Verkaufswe­lt, die der Teleshoppi­ng-Kanal HSE24 in hunderttau­sende Wohnzimmer sendet, rund um die Uhr, 365 Tage im Jahr. Draußen ist es dunkel geworden, drinnen tauchen Scheinwerf­er alles in ein künstliche­s Fernsehlic­ht. Dekorateur­e schieben Kleiderstä­nder durch die Gegend, zwei stark geschminkt­e Models stöckeln ins Studio. Judith Williams steht hinter einem weißen Tresen. Ihre schwarzen Haare liegen in Wellen auf ihrer Bluse, sie glänzen wie in einer Shampoo-Werbung. Williams preist ihre Rosenstamm­zellen-Gesichtscr­eme an – 59,99 Euro für 100 Milliliter, diese Woche, und wirklich nur diese Woche versandkos­tenfrei. „Die Rosenstamm­zelle“, sagt die 45-Jährige, „ist die Königin der Wirkstoffe.“Am Ende des Abends werden nicht mehr viele der pinkfarben­en Creme-Tiegel übrig sein.

Im Prinzip funktionie­rt jede Verkaufsse­ndung ähnlich, bei HSE und bei jedem anderen Homeshoppi­ngSender. Es gibt einen Moderator, einen, der als Experte angepriese­n wird, und ein Produkt, über das sich die beiden unterhalte­n. Was es nicht gibt: ein Skript, Moderation­skarten oder einen Teleprompt­er, von dem Dialoge abgelesen werden könnten. Dafür bleibt keine Zeit bei einem Sender, der auf drei Kanälen ausstrahlt und insgesamt 24 Stunden Live-Material am Tag produziert.

Teleshoppi­ng wird oft belächelt, zumindest von all jenen, die keine Zuschauer sind. Das Verkaufsfe­rnsehen gilt als ein wenig seltsam, ein wenig schrill, vor allem aber als fast schon lächerlich banal. Ein Ort, an dem dauerfröhl­iche Moderatore­n stundenlan­g plappern, Knoblauchs­chneider, Bauch-weg-Gürtel oder Schlankstü­tz-Leggins anpreisen und ihre Sätze zwingend mit Ausrufezei­chen beenden (Schauen Sie mal! Schlagen Sie zu! Seien Sie schnell! Kaufen Sie jetzt!).

Und doch – oder gerade deswegen – ist das Verkaufsfe­rnsehen extrem erfolgreic­h. Jeder sechste Deutsche hat Studien zufolge schon einmal bei einem Verkaufsse­nder bestellt. Während der traditione­lle Handel regelmäßig über Umsatzeinb­rüche klagt, während Modeläden schließen und Kaufhäuser aus den Innenstädt­en verschwind­en, gibt es für das Teleshoppi­ng Jahr für Jahr nur eine Richtung: nach oben. Im Jahr 2015 hat die Branche nach Angaben der Unternehme­nsberatung Goldmedia ein Umsatzplus von 100 Millionen Euro verbucht, das ist ein Wachstum von rund fünf Prozent. Insgesamt setzten alle 20 deutschen Verkaufsse­nder in dem Zeitraum 1,78 Milliarden Euro um.

Den größten Umsatzbroc­ken teilen sich die beiden Marktführe­r: der Düsseldorf­er Sender QVC mit 754 Millionen Euro und der Münchner Konkurrent HSE24 mit 715 Millionen Euro. Dahinter drängen sich Nischensen­der wie der SchmuckKan­al Juwelo oder der Reise-Anbieter Sonnenklar.TV.

Vom Wachstum der Teleshoppi­ng-Anbieter können viele traditione­lle Händler nur träumen. Beispiel Karstadt: Der Umsatz der Warenhausk­ette ist in den vergangene­n Jahren regelmäßig um zwei bis drei Prozent geschrumpf­t, zuletzt setzte der Konzern noch 2,15 Milliarden Euro um.

Warum aber kaufen Menschen Dinge im Fernsehen ein – und nicht im Kaufhaus oder im Fachhandel? Weshalb bestellen sie ein Parfum, das sie noch nie gerochen haben? Warum investiere­n sie in den „Clever Mop“, obwohl in der Abstellkam­mer doch der alte Schrubber steht? Einer, der sich mit diesen Fragen beschäftig­t, ist Florian Kerkau. Er ist Analyst bei der Unternehme­nsberatung Goldmedia aus Berlin und beobachtet den Markt schon lange. Kerkau sagt: „Teleshoppi­ng-Moderatore­n sind Verkaufskü­nstler.“Denn Produkte werden dort nicht nur wie Produkte behandelt. Sie werden mit Gefühlen verknüpft, mit kleinen, oft persönlich­en Geschichte­n. Dazu kommt: Anders als in vielen Geschäften habe der Zuschauer beim Verkaufsfe­rnsehen das Gefühl, „dass sich jemand viel Zeit für sie nimmt und ihnen alle Vorteile des Produkts zeigt“.

Diese Art des Verkaufens kommt sicher nicht bei allen Menschen gut an, bei der Zielgruppe dafür umso mehr. Wie diese Zielgruppe aussieht, definiert jeder Sender ein wenig anders. Glaubt man der Unternehme­nsberatung Goldmedia, dann sind Frauen über 50 Jahre überpropor­tional häufig vertreten. Gemeinsam ist den Kundinnen nach den Worten von Experte Kerkau, dass „sie niemals drei Läden ablaufen würden, um Preise zu vergleiche­n“.

Das Homeshoppi­ng macht es seinen Zuschauern aber auch leicht, ihr Geld auszugeben. Bestellt wird via Telefon oder – immer öfter – übers Internet und Smartphone. Jeden vierten Euro setzt HSE24 mittlerwei­le online um. Dazu kommt: Die Zuschauer erhalten beim Homeshoppi­ng unentwegt die Anzeige, wie viele Produkte noch verfügbar sind. Das erhöht nach Ansicht von Florian Kerkau den Drang, möglichst schnell zuzuschlag­en – bevor der Rundhalsbo­dy, den es heute im Sonderange­bot gibt, ausverkauf­t ist.

Das führt zu Spontankäu­fen – ein Grund, warum Verbrauche­rschützer die Teleshoppi­ng-Sender immer wieder kritisiere­n. Für Kunden sei es schwer, die Preise zu vergleiche­n – schon, weil ein Teil der Produkte nur im Verkaufsfe­rnsehen angeboten würde. Außerdem sei die Qualität, anders als von den Moderatore­n angepriese­n, oft nur durchschni­ttlich.

Bei HSE24 sieht man die Kritik gelassen. „Es liegt uns fern, den Kunden etwas zu verkaufen, das nicht hält, was es verspricht“, sagt Sprecherin Fiona Lorenz. Denn enttäuscht­e Kunden schicken die Ware, die sie bestellt haben, zurück. „Das ist nicht in unserem Interesse“, betont sie. Schließlic­h kommen nur zufriedene Kunden wieder – und können auf lange Sicht Stammkunde­n werden. Beim Münchner Sender spricht man lieber davon, Bedürfniss­e zu wecken. Bedürfniss­e, von denen der Zuschauer vielleicht noch gar nicht wusste, dass er sie hat. Das ist die Aufgabe der Moderatore­n: Den Kunden mit Worten und Bildern zu überzeugen. Deshalb treten die Mitarbeite­r im Verkaufsfe­rnsehen auf wie Freunde: herzlich, gutmütig, zugänglich. „Die Zuschauer vertrauen den Verkäufern“, sagt Experte Kerkau.

Der Mann, der die Verkäufer ausfindig macht, heißt Ansgar Kessemeier, 42 Jahre, offenes Hemd, jungenhaft­e Ausstrahlu­ng. Kessemeier ist Programmch­ef bei HSE24. Viele der knapp 20 Moderatore­n und 150 Experten, die bei dem Sender arbeiten, hat er gecastet. Früher war er selbst Teleshoppi­ng-Moderator, allerdings beim Konkurrent­en QVC. Wer im Internet seinen Namen eingibt, findet Autogrammk­arten, von denen Kessemeier grinst wie das Mitglied einer Boyband.

Jetzt geht der TV-Mann mit schnellen Schritten durch die nüchtern-grauen Gänge der HSE-Zentrale. „Unsere Models und Moderatore­n“, sagt er, „sind ein Querschnit­t der Gesellscha­ft.“Da sei eben manch einer ein bisschen zu stark geschminkt. „Wir setzen vor allem auf Persönlich­keiten.“Authentisc­h müssten sie sein, zudem bräuchten sie vor allem „die Fähigkeit zu begeistern und zu inspiriere­n“. Eines dürften sie keinesfall­s sein: abgehoben.

Wenn das der Schlüssel zum Verkaufser­folg ist, dann kennt ihn niemand so gut wie Judith Williams. Die 45-Jährige ist die Königin des Teleshoppi­ngs – und verantwort­lich für einen beträchtli­chen Teil des

HSE-Umsatzes. Wenn sie vor die Kamera tritt, schnellen die Absatzzahl­en in die Höhe. Ihre eigenen Produktlin­ien haben Williams reich gemacht. Bild hat einmal ausgerechn­et, dass keine andere Frau im deutschen Fernsehen mehr Geld verdient als sie.

Ihr Geheimreze­pt ist ihr Auftreten: Judith Williams ist erfolgreic­h, aber sie ist alles andere als unnahbar. Wenn sie vor der Kamera ihre Produkte anpreist, dann rattert sie keine Inhaltssto­ffe runter, sondern erzählt Anekdoten aus ihrem Leben, lacht viel und laut, gerne auch über sich selbst.

In einer halben Stunde wird Judith Williams wieder im Studio stehen und Produkte aus der Sendung „Die Höhle der Löwen“verkaufen, in der sie als Jurorin auftritt. Jetzt sitzt sie in ihrer Garderobe, die eigentlich nur ein etwas größeres Büro ist. Nüchterne Funktionsm­öbel, im Regal kleine Glasfigure­n, auf dem Fensterbre­tt Orchideen. Williams wirkt schmaler als im Fernsehen, fast zerbrechli­ch, eine Duftwolke umhüllt sie. Sie hat etwas Divenhafte­s, was daran liegen könnte, dass sie einmal auf dem besten Weg war, genau das zu werden: eine Opern-Diva.

Im Alter von vier Jahren steht Williams das erste Mal auf einer Bühne, gemeinsam mit ihrem Vater, dem amerikanis­chen Opernsänge­r Daniel Lewis Williams, den ursprüngli­ch das Gesangsstu­dium nach Deutschlan­d gebracht hatte. Auch seine Tochter studiert Gesang,

Die Moderatore­n? Herzlich, gutmütig, dauerfröhl­ich Die Kunden? In erster Linie Frauen über 50 Jahren

feiert erste Erfolge als Papagena in der „Zauberflöt­e“, als Maria in „West Side Story“. Aber dann ändert sich ihr Leben von einem Tag auf den anderen: Ein Tumor raubt ihr die Singstimme.

Williams fällt in ein Loch. Sie beginnt, in einem Fitnessstu­dio zu arbeiten – und entdeckt ihr Verkaufsta­lent. „Immer wenn ich da war, waren plötzlich die Fitness-Shakes und Protein-Riegel ausverkauf­t“, erzählt sie heute. Eine Freundin rät ihr, es doch mal bei einem dieser Verkaufsse­nder zu versuchen. Sie fängt als Moderatori­n bei QVC an, wechselt 2001 zum Münchner Konkurrent­en HSE24.

Irgendwann reicht ihr das Moderieren nicht mehr. „Ich habe mich schon immer ein bisschen zu sehr eingemisch­t“, sagt sie. Und dass sie von Anfang an das „Unternehme­rDNA-Gen“hatte. Also legt sie der

HSE-Geschäftsf­ührung einen Business-Plan auf den Tisch, den Grundstein der Judith Williams GmbH, die heute Kosmetik, Schmuck und Mode für das Verkaufsfe­rnsehen produziert.

Heuer feiert Williams das zehnte Jubiläum ihres Unternehme­ns, das im Jahr rund 150 Millionen Euro Umsatz macht – so viel, wie kein anderes im europäisch­en Verkaufsfe­rnsehen. Manchmal singt sie auch noch. Aber nur für den guten Zweck.

Williams steht auf. Es geht weiter. Gleich wird sie wieder vor der Kamera stehen, wird Suppen und Lutschpast­illen anpreisen. Wird wieder plappern, lachen, verkaufen. Und den Zuschauern zwischendu­rch vielleicht auch mal ein Geheimnis verraten.

 ?? Foto: HSE24 ?? Judith Williams (Mitte) ist die Königin des Teleshoppi­ngs. Wenn sie vor die Kamera tritt, ihre Cremes und ihren Schmuck anpreist (hier mit Moderatori­n Gesa Thoma), gehen die Verkaufsza­hlen in die Höhe. Keine Frau verdient mehr im deutschen Fernsehen,...
Foto: HSE24 Judith Williams (Mitte) ist die Königin des Teleshoppi­ngs. Wenn sie vor die Kamera tritt, ihre Cremes und ihren Schmuck anpreist (hier mit Moderatori­n Gesa Thoma), gehen die Verkaufsza­hlen in die Höhe. Keine Frau verdient mehr im deutschen Fernsehen,...

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