Das Ende aller Süßigkeit
Pest und Cholera haben ihre Schrecken verloren. Jetzt bedroht ein neuer Feind die Völker der Welt: Wissenschaftler sind dabei, den Zucker als aggressiven Menschheitsvernichter zu entlarven. Aber weder die Sicherheitspolitik noch die Medizin weiß, wie man den versüßten Anschlägen gegen unsere Gesundheit wirksam begegnen soll.
Notwendig ist auf jeden Fall eine neue Welle der Sprachreinigung. Wer sich für die Beseitigung der Begriffe „Mohrenkopf“und „Zigeunerschnitzel“aus den Werken der Kunst und Weltliteratur einsetzt, muss jetzt auch die Streichung aller Verklärungen zuckriger Süßigkeit fordern. Nicht länger darf man in Puccinis Oper „Tosca“den Maler Mario Cavaradossi die Zeilen „Vor Wonne sieh mich beben, / Süßes Leben!“singen lassen. Ersatzlos entfernt werden muss alle freche Süßholzraspelei von Literaten, die zu freundschaftlichem Umgang mit Zucker auffordern wie beispielsweise Clemens Brentano in seinem Roman „Godwi“: „Ich achte nicht die Gefahr, nein! nur die Süßigkeit des Lebens.“
Schwerer zu beantworten ist für moderne Zensoren die Frage, ob eine Klabund-Zeile in der Gedichtsammlung „Der himmlische Vagant“gestrichen werden muss. Die gereimte Botschaft hat vielleicht deshalb eine Überlebenschance, weil sie nicht nur den Zuckerfreunden, sondern auch der Touristikbranche gefällt. Sie lautet: „Wild und mild und bittersüß / Sind die Mädchen von Paris.“