Ursprung der evangelischen Gottesdienste
Klaus Raschzok referiert über die Messe von Caspar Kantz
Unter dem Thema „Die Nördlinger Messe des Caspar Kantz und die Geschichte des lutherischen Gottesdienstes“hatten das Evangelische Bildungswerk, der Historische Verein für Nördlingen und das Ries, sowie der Tutzinger Freundeskreis zu einem Vortragsabend mit dem früheren Nördlinger Dekan, dem jetzigen Theologieprofessor Dr. Klaus Raschzok eingeladen. Sein Anliegen war, die Schrift von Caspar Kantz über „Die rechte Evangelische und apostolische Meß…“, die am Vormittag des gleichen Tages als Reprint des im Besitz der Nördlinger Kirchengemeinde erhaltenen Originals der Öffentlichkeit präsentiert worden war
in die historischen und theologischen Zusammenhänge einzuordnen und ihrer Bedeutung nach ins rechte Licht zu rücken.
Tatsächlich gab es im zeitlichen Umfeld der lutherischen Reformation eine größere Anzahl von Übersetzungen der lateinischen Texte, wie sie in den katholischen Gottesdiensten gebräuchlich waren. Es gab im späten Mittelalter neben den Messfeiern auch Prädikantengottesdienste mit Gelegenheit zur Kommunion. Nach überzeugenden neueren Forschungsergebnissen ist der Text von Kantz möglicherweise nicht die erste, mit Sicherheit aber eine der ersten evangelischen Gottesdienstordnungen in deutscher Sprache. Sie hebt mit großer Deutlichkeit den reformatorischen Paradigmenwechsel von Messopfer des traditionellen Verständnisses zum reformatorisch wichtigen Gesichtspunkt der Sündenvergebung hervor.
Der Gemeinde kommt in der Kantz’schen Messe eine wichtige Rolle zu, nicht zuletzt beim Sündenbekenntnis („Confiteor“), wo sich Gemeinde und Priester gegenseitig die Vergebung der Sünden zusprechen. Außerdem gibt es nach reformatorischer Lehre und Praxis – auch nach dem Verständnis des Nördlinger Karmeliterpriors – keine Messfeier ohne Schriftauslegung (Predigt, Ansprache).
Ob die Messe von Kantz und seinen Ordensbrüdern regelmäßig oder überhaupt jemals nach seiner Ordnung gefeiert wurde, ist unsicher. Wichtig ist nach den Worten von Klaus Raschzok der Impuls für das Verständnis des gottesdienstlichen Geschehens. Dabei standen die lutherischen Theologen fest in der Tradition der lateinischen Messe und sahen in der Messe nach abendländisch-lateinischem Ritus die Normalform des Gottesdienstes. Traditionell war auch die Vorstellung von der Realpräsenz Christi „in mit und unter“Brot und Wein, wie sie im Augsburger Bekenntnis ausdrücklich bestätigt wird.
Mit diesen Grundzügen grenzt sich die evangelische Messe der lutherischen Reformation vom Gottesdienstverständnis der Schweizer Reformatoren ab, die als Normalform den Predigtgottesdienst praktizieren und das „Nachtmahl“auf vier Gelegenheiten im Laufe des Kirchenjahres reduzieren.
In der Zeit der Aufklärung veränderte sich die evangelische Gottesdienstpraxis. Die Kirchenmusik nahm zusammen mit dem Choralgesang der Gemeinde größeren Raum ein. Das allgemeine Kirchengebet wurde üblich, ein großes Fürbittengebet nicht zuletzt auch für die „Obrigkeit“. Die Feier des heiligen Abendmahls als gottesdienstlicher Höhepunkt trat in dieser vernunftund verstandesbeflissenen Zeit in den Hintergrund. Das Wort „Messe“wurde zum konfessionalistischen Kampfbegriff. Dementsprechend wurde er in den evangelischen Gesangbüchern vermieden.
Liturgiewissenschaft und praktische Theologie haben die lutherischen Wurzeln und die Traditionskontinuität des evangelischen Gottesdienstes wieder entdeckt. Neben der lateinischen Messe nach evangelischem Verständnis besteht die Tradition der Predigtgottesdienste und die vom Referenten als dritte Form genannten freien Gottesdienste, die sich aus den Tagesgebeten
Tradition der Predigtgottesdienste
der Ordensgemeinschaften entwickelt haben.
Offiziell anerkannt ist dieser Befund in Gestalt des Thesenpapiers „Evangelisch-lutherische liturgische Identität“, dessen Formulierung Professor Raschzok als Vorsitzender des Ausschusses der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands verantwortet. Vor dem Hintergrund dieses Textes ist die „Evangelische und apostolische Meß…“nach Kaspar Cantz ein Zukunftsmodell und ein Impulsgeber für die gottesdienstliche Praxis der lutherischen Kirchen.