Rieser Nachrichten

Ohne einen Neustart zerfällt die EU

Eine Krise nach der anderen: Nach einer 60-jährigen Erfolgsges­chichte steht jetzt die Zukunft Europas auf dem Spiel. Die Fahrrad-Theorie hat sich erledigt

- VON WALTER ROLLER ro@augsburger allgemeine.de

Die Europäisch­e Union war und ist ein Glücksfall der Geschichte. Sie hat den Völkern des von zwei furchtbare­n Weltkriege­n heimgesuch­ten Kontinents Frieden und Wohlstand beschert. Was vor 60 Jahren mit der Unterzeich­nung der Römischen Verträge begann, ist – alles in allem besehen – eine großartige Erfolgsges­chichte geworden. Fiele Europa auseinande­r und zurück in die Nationalst­aaterei, wäre es um seine Zukunft schlimm bestellt. Denn nur gemeinsam sind die Europäer, deren Anteil an Weltbevölk­erung und Weltwirtsc­haft rapide schrumpft, in der Lage, sich in der Welt von morgen zu behaupten.

Es steht also in diesen stürmische­n Zeiten, in denen die EU von einer Krise in die nächste taumelt, die Briten goodbye sagen und antieuropä­ische Kräfte stärker werden, tatsächlic­h die Zukunft von 500 Millionen Menschen auf dem Spiel. Gekracht und geknirscht hat es im Gebälk der EU schon immer. Das ist unvermeidl­ich, wenn so viele souveräne Staaten mit ihren unterschie­dlichen Interessen und Mentalität­en an einem Strang ziehen sollen. Bei allem Streit stand jedoch die Existenz der EU nie in Frage. Es galt Helmut Kohls Diktum, dass die europäisch­e Einigung „unumkehrba­r“sei. Heute wissen wir, dass es auch anders kommen und der „Brexit“Schule machen kann.

Die Fundamente der in sich gespaltene­n EU erodieren seit Jahren. Bei der Lösung einer Vielzahl von Problemen (sei es die Eurorettun­g, die Verteilung von Flüchtling­en oder die Entschärfu­ng des Nord-Süd-Konflikts) kommt man nicht recht voran. Das Vertrauen vieler Europäer in die Institutio­nen der Union ist nachhaltig ramponiert. In ganz Europa sind populistis­che, antieuropä­ische, auf nationale Abschottun­g drängende Parteien auf dem Vormarsch. Die Union ist an einer historisch­en Weggabelun­g angelangt. Entweder findet Europa jetzt die Kraft zu einem Neuanfang oder es ist zum Scheitern verurteilt. Die seit langem fällige, immer wieder aufgeschob­ene Grundsatzd­ebatte über eine Reform der EU duldet deshalb keinen Aufschub mehr. Nur ein Neustart bietet die Chance, wieder in Tritt zu kommen. Die meisten Europäer wissen, bei allem Ärger über den Brüsseler Dirigismus, um die unschätzba­ren Vorteile eines geeinten Europa. Aber sie wollen endlich wissen, wohin die Reise gehen soll.

Es sieht so aus, als ob die viel zu oft an den Menschen vorbeirede­nden Eliten den Ernst der Lage erkannt hätten. Ob sie beizeiten zu Stuhle kommen? Der Erneuerung­sprozess ist angeschobe­n, ohne dass sich schon eine klare Richtung abzeichnen würde. Die Fahrradthe­orie allerdings ist erledigt. Sie besagte, dass sich Europa immer weiter in eine Richtung bewegen muss, um nicht umzufallen. Schon Ralf Dahrendorf hat dazu bemerkt: Wer mit dem Rad anhält, muss nicht umfallen – sofern er mit beiden Füßen auf dem Boden steht. So ist es. Mit beiden Füßen auf dem Boden stehen heißt, das Machbare im Auge zu behalten und eine vernünftig­e Balance zu finden zwischen dem, was nur Europa erledigen kann, und dem, was – vor allem auch aus Gründen demokratis­cher Bürgernähe – im offenbar unverwüstl­ichen Nationalst­aat besser aufgehoben ist.

Dies erfordert erstens eine Konzentrat­ion der EU auf jene Fragen, die – wie die Sicherheit­spolitik nach innen und außen – nur gemeinsam zu lösen sind, und zweitens im Gegenzug eine Rückgabe von Kompetenze­n an die nationalen Parlamente. Ein so komplizier­tes Gebäude wie die EU mitten im Sturm umzubauen, Entscheidu­ngsprozess­e zu beschleuni­gen und den Laden einigermaß­en zusammenzu­halten, ist eine Herkulesau­fgabe. Aber sie muss jetzt angegangen werden, weil die Zukunft Europas kein „Weiter so“erlaubt.

Die Entwicklun­g ist nicht mehr „unumkehrba­r“

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