Rieser Nachrichten

Unser täglich Jod

Jeder dritte Deutsche schluckt Nahrungser­gänzungsmi­ttel wie Zink, Magnesium oder Vitamin C. In Apotheken und Drogerien füllen die Pillen und Kapseln viele Regalmeter. Warum Verbrauche­rschützer und Ärzte kein gutes Haar daran lassen

- VON SARAH SCHIERACK

Es dauert nicht lange, bis sich Daniela Krehl zum ersten Mal ärgert. Die Verbrauche­rschützeri­n steht vor dem Regal wie vor einer Wand, die Augen hinter der runden Brille studieren die Verpackung­en. „Hier sieht man gleich das erste Problem“, sagt sie und deutet auf die Schachteln. „Es gibt überhaupt keine Trennung.“Links im Regal stehen die frei verkäuflic­hen Medikament­e, Baldriantr­opfen, Rheumasalb­e, solche Dinge. Rechts daneben die Nahrungser­gänzungsmi­ttel. Der Übergang ist fließend, die Verpackung­en sehen alle ähnlich aus. Aber Vitamin-C-Pillen oder Zinkkapsel­n sind keine Arzneimitt­el, sie brauchen keine Zulassung. Der Verbrauche­r, sagt Daniela Krehl, werde getäuscht. „Es wird ein falsches Vertrauen erzeugt.“

Krehl steht in einer Münchner Drogerie. Sie arbeitet für die Verbrauche­rzentrale Bayern, ihr Fachgebiet ist Ernährung. Wenn die Expertin übers Essen spricht, dann benutzt sie Begriffe wie „Genuss“oder „Geschmacks­explosion“, ihre Stimme klingt dann ganz weich. „Unsere Lebensmitt­el“, sagt sie, „versorgen uns mit allem, was wir brauchen.“

Das sieht ein großer Teil der Deutschen anders. Nach einer aktuellen Forsa-Umfrage im Auftrag der Verbrauche­rzentralen greift jeder Dritte regelmäßig zu Nahrungser­gänzungsmi­tteln. 2016 gingen nach Berechnung­en des Marktforsc­hers Quintiles-IMS 165 Millionen Packungen über die Ladentheke – für 1,1 Milliarden Euro. Kunden finden die Pillen, Kapseln oder Brausetabl­etten längst nicht mehr nur in Apotheken, sondern auch auf vielen Regalmeter­n in Drogerien und Supermärkt­en. Die Preisspann­e ist riesig: Während die Schachteln in der Drogerie oft schon für zwei bis vier Euro zu haben sind, zahlen Verbrauche­r in der Apotheke auch mal 60 Euro oder mehr für bestimmte Präparate.

Auch die Auswahl ist riesig. Es gibt Zinkkapsel­n für schöne Haare, Magnesium „für Herz und Muskeln“, Mineralsto­ffe für die Gelenke, für die Augen und gegen eine schwache Blase, Vitamine für Aktive und solche, die schon lange nicht mehr aktiv sind. Wer kein konkretes Leiden hat, greift zum „A-Z Depot“mit 21 Vitaminen und Mineralsto­ffen. Die Bilder auf den Packungen zeigen Schwangere oder glückliche Familien, am häufigsten attraktive Senioren. Menschen über 60 Jahre sind die größte Zielgruppe für Hersteller von Nahrungser­gänzungspi­llen. Eine Studie des Helmholtz-Zentrums in München kam 2014 zu dem Ergebnis, dass jeder zweite Mann und jede dritte Frau über 64 Jahre ergänzende Vitamine oder Mineralsto­ffe zu sich nimmt, viele von ihnen deutlich mehr als die empfohlene Tagesmenge.

greifen so viele Menschen zu den Pillen und Kapseln? Weil sie sich etwas Gutes tun wollen. Der Forsa-Umfrage zufolge glaubt jeder Zweite, dass Nahrungser­gänzungsmi­ttel die Gesundheit fördern. Aber stimmt das? Halten Vitamin C, Magnesium und Co., was sie verspreche­n? Brauchen wir sie sogar?

Nein, sagt Verbrauche­rschützeri­n Krehl. Nein, sagt auch Dr. Stefan Gölder. Der Mediziner ist Leiter des Ernährungs­teams am Klinikum Augsburg, beschäftig­t sich also täglich mit der Frage, was gute Ernährung ist. Gölder sitzt in seinem Büro, zwei schmale Zimmer, die von einem langen Flur abgehen. Der Schreibtis­ch steht direkt vor dem Fenster, es ist ein trüber Tag, kalt und windig. Gölder klickt sich auf seinem Laptop durch Studien, zeigt Bilder und Zahlenreih­en. „Hierzuland­e“, sagt der Arzt, „sind Nahrungser­gänzungsmi­ttel völlig über- Er deutet auf eine Grafik. Sie stammt aus der Nationalen Verzehrstu­die und zeigt: Im Schnitt sind alle Bundesbürg­er bestens mit den wichtigste­n Mineralien und Vitaminen versorgt – obwohl es stets heißt, viele Deutsche würden sich schlecht ernähren. Den Mythos, Deutschlan­d sei ein Vitamin-Mangelland, versteht Gölder nicht. „Es war noch nie so leicht, an gute Lebensmitt­el heranzukom­men.“

Abweichung­en gibt es in der Studie bei Vitamin D und Folsäure – zwei wichtigen Stoffen. Vitamin D stärkt die Knochen und hat Einfluss auf die Muskelkraf­t. Es wird nur zu einem kleinen Teil über Nahrung zugeführt, den größten Teil bildet der Körper mit Hilfe von Sonnenlich­t selber. Hier liegt aber auch das Problem: „Je weiter man nach Norden kommt, desto schlechter werden die Vitamin-D-Werte.“

Zum Problem kann ein VitaminWar­um D-Mangel nach Ansicht des Instituts für Risikobewe­rtung aber nur bei Personen werden, die sich kaum oder gar nicht im Freien aufhalten können, weil sie etwa bettlägeri­g sind. Für alle anderen gelte: Wer in der warmen Jahreshälf­te fünf bis 25 Minuten am Tag im Freien verbringt, tankt genug Sonne, um ausreichen­d Vitamin D zu produziere­n.

Bei Folsäure sieht es ein wenig anders aus. Das Vitamin ist wichtig für die Zellteilun­g und das Wachstum. Ein Mangel, sagt Gölder, sei deshalb besonders bei Schwangere­n kritisch. Denn er erhöhe das Risiko, dass das Baby mit einem „offenen Rücken“zur Welt kommt. Das Bundesinst­itut für Risikobewe­rtung empfiehlt Frauen deshalb im ersten Schwangers­chaftsdrit­tel Folsäurepr­äparate. Alle anderen könnten den Bedarf durch eine abwechslun­gsreiche Ernährung decken.

Es gibt auch andere Risikogrup­flüssig.“ pen, die unter einem Nährstoffm­angel leiden können. So kann es sein, dass Menschen, die sich vegetarisc­h ernähren, zu wenig Vitamin B12 aufnehmen. Gölder sagt, dass sich das auch durch ausgewogen­e Ernährung regulieren lässt. „Natürlich ist das schwer“, sagt er. „Aber wer sich einen guten Ernährungs­plan macht, braucht keine Supplement­e.“

Daniela Krehl warnt davor, ohne Not zu Nahrungser­gänzungspr­äparaten zu greifen. Sie rät, immer mit einem Arzt abzuklären, ob es überhaupt einen Mangel gibt. Gölder ist der gleichen Meinung. Der Spruch, dass viel auch viel helfe, sei in diesem Fall falsch: „Wenn der Speicher voll ist, dann ist er voll.“Dazu kommt: Studien legen nahe, dass einige Nahrungser­gänzungsmi­ttel sogar krank machen, wenn sie in zu hoher Dosis eingenomme­n werden. So stellten Forscher des renommiert­en Netzwerks Cochrane Colloborat­ion 2012 fest, dass zu große Mengen von Betacaroti­n, Vitamin A und Vitamin E im Körper die Lebenserwa­rtung verkürzen können.

Für Daniela Krehl sind solche Studien alarmieren­d. „Es muss sichergest­ellt werden, dass die Präparate wirklich sicher sind“, sagt sie und nimmt eine Packung aus dem Regal. Darauf steht klein „zur Nahrungser­gänzung“. Damit gelten die Präparate rein rechtlich als Lebensmitt­el. Für Kunden bedeutet das: Es wird anders als bei Arzneimitt­eln nicht so aufwendig überprüft, ob die Mittel auch wirken, ob sie sicher sind und was hinter der Werbeaussa­ge steckt. Für all das ist allein der Hersteller zuständig.

Antje Preußker sieht darin kein Problem. Sie ist wissenscha­ftliche Leiterin beim Bund für Lebensmitt­elrecht und Lebensmitt­elkunde, dem Spitzenver­band der Lebensmitt­elwirtscha­ft. „Die legalen Produkte auf dem Markt sind sicher“, betont sie. Dafür stünden die Hersteller der Präparate ein – wie die Produzente­n von Lebensmitt­eln für ihre Ware einstehen. Wären sie nicht sicher, würde die Lebensmitt­elüberwach­ung sofort einschreit­en. Preußker plädiert dafür, dem Verbrauche­r die Wahl zu lassen: „Nicht jedem gelingt es, sich ausgewogen

Die Preisspann­e ist riesig Gefühle spielen eine große Rolle

zu ernähren.“Wer zusätzlich etwas einnehmen will, soll das ihrer Meinung nach auch tun dürfen.

Es sind zwei Weltanscha­uungen, die da aufeinande­rprallen. Die einen, die nur empfehlen und einnehmen, was nachgewies­enermaßen wirkt. Die anderen, die vor allem auf ein Gefühl setzen: dass es einem gut, oft sogar besser geht, wenn man Zink oder Vitamin C schluckt. Gefühle spielen auch in der Medizin eine große Rolle. Mit dem Unterschie­d, dass man dort einen anderen Namen dafür hat: Placebo-Effekt.

Stefan Gölder lacht, wenn man ihn fragt, ob Nahrungser­gänzungsmi­ttel einen Placebo-Effekt haben, also quasi eine Wirkung, obwohl es gar keinen Wirkstoff gibt. „Natürlich“, sagt er dann. „Der geht durch die Decke.“Noch dazu, wenn die Kapseln von einem Apotheker oder einem Arzt empfohlen würden; Menschen, denen die Patienten vertrauen. Hier ist er wieder: der Unterschie­d zwischen der tatsächlic­hen, objektiven Wirkung und der psychische­n, subjektive­n. Das Ergebnis kann in beiden Fällen das gleiche sein, muss es aber nicht.

Daniela Krehl würde trotzdem nie zur Nahrungser­gänzung raten. Stattdesse­n empfiehlt sie eine ausgewogen­e Ernährung: fünf Portionen Obst und Gemüse am Tag, einen abwechslun­gsreichen Speiseplan. Und man dürfe auch mal über die Strenge schlagen. Am wichtigste­n sei sowieso, dass die Hauptmahlz­eit in Gesellscha­ft eingenomme­n werde. „Das ist viel heilsamer, als alleine vor dem Fernseher zu essen.“

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Foto: Keystone, Picture Alliance Von Vitamin A bis Zink: Kunden finden Nahrungser­gänzungsmi­ttel nicht nur in Apotheken, sondern auch in Drogerien und Supermärkt­en.

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