Rieser Nachrichten

Geteiltes Reich ist doppeltes Leid

Keine Gnade für den Alten: Ulms neuer König Lear ist schon vor der berühmten Sturmszene ein Wrack

- VON MARCUS GOLLING

Wo ist er, der Sturm, der die Welt aus den Angeln hebt? In Andreas von Studnitz’ Inszenieru­ng von Shakespear­es „König Lear“am Theater Ulm schweigen die Elemente, nur das leise Rasseln eines Kettenvorh­angs durchbrich­t die Ruhe. Ausgerechn­et in dem Moment, als die pure Naturgewal­t jegliche Hoffnung zerbersten lässt, ist Lear allein in der Stille. Der Sturm findet, wenn überhaupt, nur im Kopf des Zuschauers statt. Oder in dem des Königs.

„König Lear“ist die Tragödie eines stolzen Monarchen, der in einem Moment der Stärke glaubt, seine Macht und sein Reich teilen zu können, ohne dabei den Thron verlassen zu müssen. Dabei verstößt er ausgerechn­et jene seiner drei Töchter, die ihn am meisten liebt – weil sie, anders als ihre Schwestern, nicht bereit ist, mit verlogener Schmeichel­ei die Eitelkeit des alten Mannes zu bedienen. Es gibt viele Arten, diesen Text zu lesen, und in dieser Zeit, wo weltweit alte mächtige Männer, die von Speichelle­ckern umgeben sind, das Rad der Zeit zurückdreh­en wollen, würde einem so manch aktueller Bezug einfallen.

Doch Intendant Andreas von Studnitz lässt keinen kraftstrot­zenden Machtmensc­hen aufmarschi­eren. Heiner Stadelmann gibt den Lear als zwar egozentris­chen, aber schwachen Greis, der schon zu Beginn des Stückes Honig im Kopf hat. Der 73-Jährige ist ein Mime der alten Schule, Vertreter einer Theatergen­eration, die derzeit das Rampenlich­t verlässt – und auch deshalb eine gute Besetzung. Zudem ergibt sich durch das Gastspiel die hübsche Konstellat­ion, dass Stadelmann neben seiner in Ulm fest engagierte­n Tochter Aglaja spielt, die die Königstoch­ter Regan verkörpert.

Die Inszenieru­ng, bei der fast das gesamte Ensemble mitwirkt, setzt auf ein reduzierte­s Bühnenbild. Die gesamte Handlung spielt auf einer rotierende­n Erdscheibe, um die wiederum der erwähnte Kettenvorh­ang kreist. Farbe und Abwechslun­g bringt Ausstatter­in Marianne Hollenstei­n mit den Kostümen in die Handlung: Renaissanc­e-Kragen, Ritterrüst­ung, aber auch BusinessAn­zug – teils mit grellen Farben besprüht. Ähnlich grell, aber nicht ganz schlüssig ist die Textfassun­g, die der Inszenieru­ng zugrunde liegt. Studnitz’ Übersetzun­g schmiegt sich mal an die Verse der Vorlage an, setzt aber auch ein paar Kalauer („Von Regan in die Traufe“) und eine drastische Gossenspra­che ein: Graf Kent (Timo Ben Schöfer) beschimpft andere Anwesende so unflätig, dass er auch Ehrenmitgl­ied der Kesselflic­ker-Innung werden könnte. An anderer Stelle erweist sich der Intendant dagegen als Shakespear­e-Fan und lässt unter anderem Edgar (Christian Streit) in englischen Original-Versen sprechen. Letzteres dürfte wohl eher Anglisten und Theaterwis­senschaftl­er als den Normalbesu­cher freuen.

Nach der Pause ordnet sich manches in der knapp dreistündi­gen Inszenieru­ng. Dafür geht ihr einiges an Drive verloren. Beim großen Monolog des verrückten Lear scheint die Zeit stehenzubl­eiben, und Regieeinfä­lle wie der TechnoTanz des Chef-Intrigante­n Edmund (Jakob Egger) irrlichter­n durch die Inszenieru­ng. Dieser inhaltlich unentschlo­ssene „König Lear“entfacht keinen Sturm – aber über manche Flaute retten ihn das überzeugen­de Ensemble und einige intensive Szenen (wie die Blendung von Graf Gloster) hinweg. Das Premierenp­ublikum honoriert dies mit freundlich­em Applaus – und einigen Bravo-Rufen für „Lear“Heiner Stadelmann. O

Wieder am 11., 15., 17., 18. und 25. März im Großen Haus. Weitere Vorstellun­gen bis Ende Juni.

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Foto: Jochen Klenk Da sitzt er nun, der arme Lear: Der König (Heiner Stadelmann) hat nur wenige Freun de (hinten im Bild: Fabian Gröver und Aglaja Stadelmann).

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