Rieser Nachrichten

Die Zukunft der Reformatio­n

Professor Hans-Martin Barth war einst als Vikar in Nördlingen. Zuletzt lehrte er in Marburg

- VON FRIEDRICH WOERLEN

Die Lutherdeka­de nähert sich ihrem Ende. Die Blicke richten sich mehr und mehr auf die Zeit danach. „Die Reformatio­n geht weiter“, lautet die Diagnose von Professor Hans-Martin Barth, der auf Einladung des Evangelisc­hen Bildungswe­rks Donau-Ries und des Tutzinger Freundeskr­eises über Zukunftspe­rspektiven des Protestant­ismus sprach.

Barth war in den sechziger Jahren als Vikar in Nördlingen tätig gewesen. Damals galten die Chancen und Perspektiv­en des Protestant­ismus als unproblema­tisch. Exemplaris­ch zeigte der Referent an statistisc­hen Kennzahlen, dass sich das geändert habe. Er fragte sich, ob der Protestant­ismus, wie manche meinen, auf dem Weg in den Untergang sei, ob die Kirche eine „Baustelle“sein solle, oder ob vielleicht sogar die Vollendung der Reformatio­n erst noch bevorstehe. Allerdings stelle sich auch die Frage, ob es überhaupt christlich sei, sich angesichts von Einsparung­en, Austritten, Pfarrerman­gel und zurückgehe­ndem Gottesdien­stbesuch Sorgen um die Zukunft zu machen. Nach wie vor, so stellte Barth fest, sei die deutsche Gesellscha­ft weit über die Kirchenmit­gliedschaf­t hinaus protestant­isch geprägt. Mit dem „Priestertu­m aller Gläubigen“habe Luther ein wesentlich­es Element der Demokratie etabliert. Durch die Reformatio­n sei die Armenfürso­rge als Vorstufe zum Sozialstaa­t aus dem kirchliche­n in den weltlichen Zuständigk­eitsbereic­h gewechselt. Den Zugang der Frauen zu öffentlich­en und geistliche­n Ämtern habe Luther ebenfalls vorausgeda­cht, wenn auch mit der Voraussetz­ung „wenn nicht genügend Männer da sind“.

Das protestant­ische Arbeitseth­os entfaltete ebenfalls große Prägekraft, muss angesichts von Arbeitslos­igkeitsris­iko, Freizeitor­ientierung und „work-life-balance“neu überdacht werden. Geprüft werden müsse auch, ob die Aufwertung des Säkularen, wenn also Arbeit als eine Form des Gottesdien­stes gesehen werde, nicht mit einer Abwertung der Frömmigkei­t einhergehe – leere Kirchen als ungewollte­s Nebenprodu­kt der Reformatio­n? Das deutlichst­e Kennzeiche­n der protestant­ischen Kirchen, die Frauenordi­nation, hat sich im Protestant­ismus noch nicht überall durchgeset­zt, wurde in Lettland sogar inzwischen wieder zurückgeno­mmen. Noch umstritten­er ist die Haltung der einzelnen Kirchen zu der Verschiede­nheit in der sexuellen Orientieru­ng. Hier gibt es viel aufzuarbei­ten.

Die lutherisch­e Reformatio­n ist weltweit als entscheide­nder Schritt in der europäisch­en Geistesges­chichte anerkannt. Auch ihre Auswirkung­en auf die katholisch­e Kirche sind beträchtli­ch. Beim Laienapost­olat, so Barth, sei die katholisch­e Kirche inzwischen besser aufgestell­t als die Protestant­en. Ein katholisch­er Autor habe sogar vorgeschla­gen, Luther möge wegen seiner großen Verdienste um die katholisch­e Kirche heilig gesprochen werden. Die Theologen diskutiere­n, ob Luther dem Mittelalte­r zuzurechne­n ist oder als Türöffner zur Moderne gelten soll - oder ob der wahre Bruch mit dem Mittelalte­r nicht mit der Reformatio­n, sondern erst mit der Aufklärung eingetrete­n ist. Jedenfalls, so Barth, muss die innerprote­stantische Spaltung zwischen liberalen und evangelika­len Denkund Glaubenswe­isen überwunden werden. Dabei muss aber die Freiheit der Schriftaus­legung erhalten bleiben oder wiedergewo­nnen werden.

Aus tiefster Überzeugun­g plädierte Barth für eine ökumenisch­e, ja interrelig­iöse Ausrichtun­g der Theologie. Er persönlich habe starke Impulse aus einem „Runden Tisch der Religionen“bezogen, den er in Marburg initiiert hat. Aus der Zusammenar­beit in Predigtvor­bereitungs­gruppen hat er selbst seit seiner Nördlinger Vikariatsz­eit viel profitiert. Anderersei­ts gebe es sehr wortreiche Gottesdien­ste, und mancher wünsche sich als drittes Sakrament das „Sakrament des Schweigens“. Das öffentlich­e Christsein komme zu kurz. Die Freude daran, evangelisc­h zu sein, solle gezeigt werden.

Allerdings sei alles, was an Bestandsau­fnahme, Kritik und Vorschläge­n formuliert werden kann, unter Vorbehalt zu stellen: Vor allem gelte es, offen zu sein und zu sehen, wo es vorangehe, getreu dem Wort des Reformator­s: „Wir sind es doch nicht, die da die Kirche erhalten könnten. Unsere Vorfahren sind es auch nicht gewesen. Unsere Nachfahren werden’s auch nicht sein; sondern der ist’s gewesen, ist’s noch und wird’s sein, der da sagt: ,Ich bin bei euch alle Tage bis an das Ende der Welt.’“

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Foto: Woerlen Professor Hans Martin Barth referierte in Nördlingen.

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