Die Zukunft der Reformation
Professor Hans-Martin Barth war einst als Vikar in Nördlingen. Zuletzt lehrte er in Marburg
Die Lutherdekade nähert sich ihrem Ende. Die Blicke richten sich mehr und mehr auf die Zeit danach. „Die Reformation geht weiter“, lautet die Diagnose von Professor Hans-Martin Barth, der auf Einladung des Evangelischen Bildungswerks Donau-Ries und des Tutzinger Freundeskreises über Zukunftsperspektiven des Protestantismus sprach.
Barth war in den sechziger Jahren als Vikar in Nördlingen tätig gewesen. Damals galten die Chancen und Perspektiven des Protestantismus als unproblematisch. Exemplarisch zeigte der Referent an statistischen Kennzahlen, dass sich das geändert habe. Er fragte sich, ob der Protestantismus, wie manche meinen, auf dem Weg in den Untergang sei, ob die Kirche eine „Baustelle“sein solle, oder ob vielleicht sogar die Vollendung der Reformation erst noch bevorstehe. Allerdings stelle sich auch die Frage, ob es überhaupt christlich sei, sich angesichts von Einsparungen, Austritten, Pfarrermangel und zurückgehendem Gottesdienstbesuch Sorgen um die Zukunft zu machen. Nach wie vor, so stellte Barth fest, sei die deutsche Gesellschaft weit über die Kirchenmitgliedschaft hinaus protestantisch geprägt. Mit dem „Priestertum aller Gläubigen“habe Luther ein wesentliches Element der Demokratie etabliert. Durch die Reformation sei die Armenfürsorge als Vorstufe zum Sozialstaat aus dem kirchlichen in den weltlichen Zuständigkeitsbereich gewechselt. Den Zugang der Frauen zu öffentlichen und geistlichen Ämtern habe Luther ebenfalls vorausgedacht, wenn auch mit der Voraussetzung „wenn nicht genügend Männer da sind“.
Das protestantische Arbeitsethos entfaltete ebenfalls große Prägekraft, muss angesichts von Arbeitslosigkeitsrisiko, Freizeitorientierung und „work-life-balance“neu überdacht werden. Geprüft werden müsse auch, ob die Aufwertung des Säkularen, wenn also Arbeit als eine Form des Gottesdienstes gesehen werde, nicht mit einer Abwertung der Frömmigkeit einhergehe – leere Kirchen als ungewolltes Nebenprodukt der Reformation? Das deutlichste Kennzeichen der protestantischen Kirchen, die Frauenordination, hat sich im Protestantismus noch nicht überall durchgesetzt, wurde in Lettland sogar inzwischen wieder zurückgenommen. Noch umstrittener ist die Haltung der einzelnen Kirchen zu der Verschiedenheit in der sexuellen Orientierung. Hier gibt es viel aufzuarbeiten.
Die lutherische Reformation ist weltweit als entscheidender Schritt in der europäischen Geistesgeschichte anerkannt. Auch ihre Auswirkungen auf die katholische Kirche sind beträchtlich. Beim Laienapostolat, so Barth, sei die katholische Kirche inzwischen besser aufgestellt als die Protestanten. Ein katholischer Autor habe sogar vorgeschlagen, Luther möge wegen seiner großen Verdienste um die katholische Kirche heilig gesprochen werden. Die Theologen diskutieren, ob Luther dem Mittelalter zuzurechnen ist oder als Türöffner zur Moderne gelten soll - oder ob der wahre Bruch mit dem Mittelalter nicht mit der Reformation, sondern erst mit der Aufklärung eingetreten ist. Jedenfalls, so Barth, muss die innerprotestantische Spaltung zwischen liberalen und evangelikalen Denkund Glaubensweisen überwunden werden. Dabei muss aber die Freiheit der Schriftauslegung erhalten bleiben oder wiedergewonnen werden.
Aus tiefster Überzeugung plädierte Barth für eine ökumenische, ja interreligiöse Ausrichtung der Theologie. Er persönlich habe starke Impulse aus einem „Runden Tisch der Religionen“bezogen, den er in Marburg initiiert hat. Aus der Zusammenarbeit in Predigtvorbereitungsgruppen hat er selbst seit seiner Nördlinger Vikariatszeit viel profitiert. Andererseits gebe es sehr wortreiche Gottesdienste, und mancher wünsche sich als drittes Sakrament das „Sakrament des Schweigens“. Das öffentliche Christsein komme zu kurz. Die Freude daran, evangelisch zu sein, solle gezeigt werden.
Allerdings sei alles, was an Bestandsaufnahme, Kritik und Vorschlägen formuliert werden kann, unter Vorbehalt zu stellen: Vor allem gelte es, offen zu sein und zu sehen, wo es vorangehe, getreu dem Wort des Reformators: „Wir sind es doch nicht, die da die Kirche erhalten könnten. Unsere Vorfahren sind es auch nicht gewesen. Unsere Nachfahren werden’s auch nicht sein; sondern der ist’s gewesen, ist’s noch und wird’s sein, der da sagt: ,Ich bin bei euch alle Tage bis an das Ende der Welt.’“