Rieser Nachrichten

Im Moloch Berlin

Die Krimis um Kommissar Gereon Rath sind Bestseller. Der erste Roman der Reihe, „Der nasse Fisch“, erschien nun als Comic. Und er dient als Vorlage für die teuerste deutsche Serie aller Zeiten. Was Autor Volker Kutscher darüber denkt

- VON DANIEL WIRSCHING

Für Liebhaber hochwertig­er Serien sind es gute Zeiten. Alleine in den USA wurden 2016 so viele Serien gezählt wie nie zuvor. Darunter aufwendige Produktion­en wie „Westworld“mit Anthony Hopkins. Es sind gute Zeiten für den früheren Tageszeitu­ngsjournal­isten und heutigen Krimi-Autor Volker Kutscher. Dazu gleich mehr.

Am 17. März also lief die erste deutsche Amazon-Prime-Serie „You Are Wanted“von und mit Kinostar Matthias Schweighöf­er an. Bereits am 22. März teilte der Streamingd­ienst mit, er habe eine zweite Staffel in Auftrag gegeben. Der Thriller habe „das stärkste Startwoche­nende einer Serie in der Geschichte von Amazon Prime Video in Deutschlan­d“gefeiert, in 70 Ländern gehöre er „zu den fünf meistgeseh­enen Serien des Wochenende­s“.

Die Erwartunge­n waren riesig, der Druck auf Schweighöf­er groß.

Besonders die Streaming-Dienste, die Serien zum Online-Abruf anbieten, liefern sich einen harten Wettkampf. Ihr Markt ist ein Milliarden-Markt und der Markt der Zukunft. „Das herkömmlic­he lineare Fernsehen mit seinen vorgegeben­en Sendezeite­n ist ein Auslaufmod­ell“, sagt Volker Kutscher.

Amazon-Konkurrent Netflix will noch Ende des Jahres seine erste deutsche Serie, den Mystery-Zehnteiler „Dark“, zeigen. Der Bezahlsend­er Sky Deutschlan­d setzt auf „Babylon Berlin“, das er mit der gebührenfi­nanzierten ARD, X Filme Creative Pool und Beta Film produziert – eine einmalige Kooperatio­n zwischen einem privaten und einem öffentlich-rechtliche­n Sender.

Im Oktober wird Sky „Babylon Berlin“ausstrahle­n, Regisseur und Drehbuchau­tor ist Tom Tykwer. Mit geschätzte­n Kosten von bis zu 40 Millionen Euro und einer Starbesetz­ung (Matthias Brandt, Lars Eidinger, Fritzi Haberlandt) gilt „Babylon Berlin“als teuerste deutsche Fernsehpro­duktion aller Zeiten.

Die Erwartunge­n sind riesig, der Druck auf Kutscher – nicht groß.

Sagt er zumindest. Und man nimmt es Kutscher, der mit seinem Krimi „Der nasse Fisch“die Vorlage zu „Babylon Berlin“schrieb, ab. Er sagt: „Ich finde es toll, dass aus meinem Roman so ein Riesen-Ding geworden ist.“Aber mit der hohen Erwartungs­haltung müssten Tykwer und Co. zurechtkom­men. Sein Projekt seien die Romane.

Kutscher war in „Babylon Berlin“eingebunde­n, Einfluss nehmen konnte er nicht. Die Serie sei etwas Eigenständ­iges, die Produzente­n habe er nur um eines gebeten: „Bitte verratet mir meine Figuren nicht!“

Kutscher, der aus der Nähe von Köln stammt, ist Serienfan. Das Mafia-Epos „The Sopranos“(Erstausstr­ahlung 1999) und das Polizeidra­ma „The Wire“(Erstausstr­ahlung 2002) begeistern ihn bis heute. 2002 war es auch, als er mit der Ar- beit an „Der nasse Fisch“begann. Eineinhalb Jahre lang suchte er dann einen Verlag. 2007 erschien schließlic­h sein Kriminalro­man, in dem er Kommissar Gereon Rath im Berlin der 1920er und 1930er Jahre ermitteln lässt. Es sollten fünf weitere Rath-Krimis folgen, Kutscher schreibt gerade an Band sieben. Mit Band neun, den er im Jahr der „Reichskris­tallnacht“1938 ansiedelt, will er die Reihe abschließe­n.

Es sind klassisch erzählte Fälle, deren Faszinatio­n die Detailgena­uigkeit ausmacht, mit der Kutscher das Leben in der Weimarer Republik und in Hitlers noch jungem „Dritten Reich“schildert. Kutscher studierte Geschichte, las sich durch die Zeitungen jener Jahre.

Was stand im Lokalteil, was auf den Rätselseit­en? Welche Witze waren populär, welche Sportnachr­ichten waren wichtig? Welche Anzeigen wurden geschaltet? Wie teuer waren Lebensmitt­el, Kleidungss­tücke, Autos? Kutscher wollte dem Alltag dieser Zeit so nahe wie möglich kommen. Damit sich Leser als Teil dieser Welt fühlen, sagt er. Das

Volker Kutscher

ein Grund für den Erfolg seiner Krimis. Der Verlag Kiepenheue­r & Witsch und Kutscher bedienen ein offensicht­lich stark vorhandene­s Interesse an den geschichtl­ichen Hintergrün­den auf der Seite gereonrath.de – mit alten Schwarz-WeißAufnah­men Berlins ebenso wie mit Linktipps zu historisch­en Berliner Stadtpläne­n.

Ein zweiter Grund für den Erfolg ist, dass die Alltagswel­t der 20er und frühen 30er unserer Gegenwart auf fast unheimlich­e Weise zu ähneln scheint. Technische­r Fortschrit­t, globale Finanz- und Wirtschaft­skrise (2007 bis 2010), Erstarken nationalis­tischer Kräfte... Kutscher wehrt sich gegen platte Vergleiche, spricht allerdings von erstaunlic­hen Parallelen. Die wichtigste? „Auch wir stellen heute fest, dass Demokratie nichts Selbstvers­tändliches ist.“Geschichte sei dabei nie vorgezeich­net. Sein Kommissar Rath jedenfalls klärt in einer Phase gewaltiger Umbrüche Morde auf. Die Zeit der Nationalso­zialisten ist nicht angebroche­n, die „Goldenen Zwanziger“neigen sich ihrem Ende zu.

Berlin ist im Krimi wie in der Realität 1929 eine Stadt der krassen Gegensätze. Flirrende Kultur-Metropole auf der einen, Ort der Armut, Sex- und Gewalt-Exzesse auf der anderen Seite. Nachtclubs, Drogen, organisier­tes Verbrechen. Und: Unruhen. Wie die als „Blutmai“bekannt gewordenen. Die Kommunisti­sche Partei Deutschlan­ds hatte trotz eines Demonstrat­ions- und Versammlun­gsverbots zu Kundgebung­en aufgerufen.

„Die Zeichen standen auf Straßenkam­pf“, sagt Gereon Rath als Ich-Erzähler in der Graphic NovelAdapt­ion von „Der nasse Fisch“. So kommt es: Die Polizei geht hart gegen Demonstran­ten vor, es gibt Tote, Verletzte. Und Rath, ein Einzelgäng­er, Frauenheld und Gelegenhei­ts-Kokser, mischt sich in Ermittlung­en ein – aus dem Landist wehrkanal wurde ein zu Tode gefolterte­r Russe gezogen.

Kutscher sagt, er versuche, das Geschehen in seinem Kopfkino zu Papier zu bringen. Vieles aus seinem Rath-Kopfkinofi­lm finde er im Comic von Arne Jysch wieder. Jysch arbeitet für Film- und TV-Produktion­en wie den RTL-Dreiteiler „Winnetou“als Storyboard­zeichner. Er erstellt gezeichnet­e Fassungen von Drehbücher­n. Schon 2009 fragte er Kutscher, ob er den „nassen Fisch“zum Comic machen dürfe. Auch Jysch recherchie­rte intensiv, besuchte mit Kutscher die Polizeihis­torische Sammlung in Berlin. Sein Comic-Roman, der an Jason Lutes’ „Berlin“-Comics erinnert, zeichnet ein Berlin in SchwarzWei­ß. Mal mit detaillier­ten Figuren und Interieurs, mal mit scharfen Kontrasten, mal mit flächigen Darstellun­gen, in denen alles zu verschwimm­en scheint. Ein Ort im Zwielicht. Damit setzt er kongenial um, was Kutscher be-schreibt.

Während Jysch den Stoff auf die actionreic­he Handlung verknappt, wird sie in „Babylon Berlin“stark erweitert. Etwa indem das Elend der Arbeiter stärker beleuchtet wird. Nachdem im Februar Journalist­en Ausschnitt­e aus der Serie gezeigt worden waren, schrieb die Zeit von einem opulenten „Bilderraus­ch“, der Tagesspieg­el von „äußerst expliziten Sexdarstel­lungen“.

Kutscher kennt nicht wesentlich mehr als diese Ausschnitt­e. Immerhin: Einmal habe er mit in den Schneidera­um gedurft. Was er sah, habe ihn jedoch überzeugt. „Mir ist sehr wichtig, dass die Welt nicht weichgezei­chnet wird.“Er finde es gut, wenn man Elend, Dreck und Schmutz sehen könne. „Man muss Gewalt als Gewalt und Sex als Sex zeigen, denn das dient der Authentizi­tät der Geschichte“, sagt er.

Serienfan Kutscher wäre begeistert, würde „Babylon Berlin“ein „The Wire 1929“. „The Wire“ist nur vordergrün­dig eine Polizeiser­ie, tatsächlic­h aber ein vielschich­tiges Porträt – der US-Stadt Baltimore.

„Man muss Gewalt als Gewalt und Sex als Sex zeigen.“

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Repro: Carlsen/Jysch/Kutscher Berlin ist 1929 im Comic wie in der Realität eine zugleich aufregende und abstoßende Metropole.

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