Schönes Alter
Mit 108 noch Komplimente machen, mit 100 den Gemüsegarten pflegen – das klingt doch wunderbar. Und immer mehr Menschen werden tatsächlich so alt. Doch mal ehrlich: Will man das überhaupt?
Schöne Männer fallen ihr sofort auf. Dafür hatte Maria Kagerer schon immer einen Blick. Und heute sagt sie es auch, wenn ihr einer gefällt. Frei heraus. Schließlich achtet sie selbst sehr auf ihr Aussehen, will überhaupt alles ordentlich haben. Wenn sie etwas nicht leiden kann, dann sind das schlechte Manieren. Wer sie so beobachtet, wie sie in ihrem Sessel sitzt, plaudert, lacht, wer sieht, wie geschmackvoll sie gekleidet ist, mit dem passendes Tuch zum T-Shirt, glaubt nicht, dass Maria Kagerer vor wenigen Tagen ihren 108. Geburtstag gefeiert hat. Erst, wenn man ihr länger zuhört, fällt auf, dass sie oft abschweift, dass sie Fragen clever nutzt, um von früher zu erzählen.
108-Jährige sind eine Ausnahme. Bereits 100-Jährige sind ein Phänomen. Vor allem, wenn sie fit sind und noch aus dem Fenster springen können, wie im Bestseller von Jonas Jonasson. Wenn sie einfach aus ihrem Leben erzählen, wie in dem aktuellen Dokumentarfilm „Ü100“von Dagmar Wagner. Da stehen allerdings „Super-Ü100“im Mittelpunkt. Ruja etwa. Sie spielt mit 102 noch wunderbar Klavier. Oder Ernst. 103 Jahre. Er warf nicht nur einen Einbrecher aus dem Haus. Der leidenschaftliche Tänzer lernte mit 89 noch eine Frau kennen. Und da ist Hella. 103. Sie geht mit ihrem Rollator noch selbstständig einkaufen und kocht. Genau so wollen sicher viele Menschen alt werden. Gesund. Fit im Kopf. Altersweise.
Karl Brodbeck gehört auch zu diesen Vorbildern. Wer dem 100-Jährigen im gemütlichen Wohnzimmer in seinem Haus in Wertingen gegenübersitzt, ist einfach verblüfft: So charmant kann man also mit 100 sein. So aufgeschlossen dem Weltgeschehen gegenüber. So rüstig. So humorvoll. So gelassen. So herzlich. Brodbeck hat geschafft, was viele anstreben: ein hohes Alter in guter Gesundheit.
Und das schaffen immer mehr, erklärt Sebastian Klüsener. Er forscht am Max-Planck-Institut für demografische Forschung in Rostock und sagt: „Die Wahrscheinlichkeit, ein Alter von 100 beziehungsweise 110 zu erreichen, steigt weiterhin stark an.“Zwar machen derzeit weniger Menschen das Jahrhundert voll, was an den geburtenschwachen Jahrgängen des Ersten Weltkriegs liegt. „Dies sollte sich aber ab 2019 wieder stark ändern.“
Doch wie wird man so alt? „Die Gene spielen eine Rolle“, sagt Oberarzt Christian Steber vom Bezirkskrankenhaus Augsburg. Mindestens so wichtig ist seiner Meinung nach die Lebensführung. Eine gesunde Ernährung also. Ausreichend Bewegung – am besten drei- bis viermal in der Woche. Soziale Kontakte. Ehrenamtliches Engagement. Geis- tige Aktivität. „Alles, was einen aktiv im Leben stehen lässt.“
Aktiv war Karl Brodbeck immer. Doch er erlebte nicht nur Positives. Schließlich hat er die Schrecken des Zweiten Weltkriegs mitgemacht, war in Gefangenschaft. Doch noch immer ist seine Lust zu spüren, etwas zu bewegen. Wie er es immer in seinem Leben getan hat. Der gelernte Bäcker sattelte nach dem Krieg beruflich um. Er arbeitete zunächst im Landratsamt, leitete dann einen Omnibusbetrieb und das Lager eines Autohauses. Noch während des Krieges lernte er in Wertingen seine spätere Frau Wiltrudis kennen. Bald nach dem Krieg wurde Sohn KarlHeinz geboren, der heute als Wirtschaftsprofessor tätig ist. Sohn und Schwiegertochter besuchen ihn regelmäßig – an Feiertagen rufen auch die berühmten Neffen Fritz und Elmar Wepper an. Seit etwa einem Jahr helfen sein Sohn und die Schwiegertochter im Haushalt, erledigen die Einkäufe. Eine Hüft- und Knieoperation haben dazu geführt, dass Brodbeck nicht mehr Auto fahren kann. Das Fahren selbst vermisst er nicht. Aber die Mobilität.
Doch er ist kein Mann, der jammert. Schließlich hat er auch zwei Nachbarinnen, die sich um ihn kümmern. Die eine schaut jeden Tag, ob das Badfenster gekippt wird – ein Zeichen, dass alles gut ist. „Man muss im Alter gut organisiert sein“, erklärt Brodbeck und lacht. Zum Glück kann er aber vieles noch selbst machen: Waschen und Bügeln etwa – und Kochen. Das lernte er bei seiner Frau, die vor neun Jahren gestorben ist. Und er hat seinen Rhythmus. „Diese Regelmäßigkeit brauche ich.“Jeden Morgen frühstückt er und liest Zeitung. Nach dem Mittagessen folgt ein Schläfchen. Am Nachmittag ist Teestunde und es werden Kreuzworträtsel gelöst – am liebsten auf der Terrasse. Bald will er auch das Gemüsebeet anpflanzen. Am Abend ist Fernsehzeit. Vor allem Dokumentarfilme interessieren ihn.
Doch Brodbeck und die Persönlichkeiten aus dem „Ü100“-Film sind Ausnahmen. Eine kleine Gruppe. So klein, dass sie im Landesamt für Statistik gar nicht extra aufgeführt wird. Da aber viele Gemeinden den bayerischen Ministerpräsidenten informieren, wenn bei ihnen ein hochbetagter Jubilar lebt, hat die Staatskanzlei eine Liste. Sie kommt auf etwas mehr als 700 Menschen, die im vergangenen Jahr ihren 100. feiern konnten. Über 60 Menschen wurden 105, vier 108.
Auch Oberarzt Steber spricht von einer „Rarität“. Und als Gerontopsychiater kennt er vor allem die Schattenseiten des Altwerdens, die man nicht verschweigen und vergessen darf. Da sind eben nicht nur die körperlichen Beeinträchtigungen zu nennen, sondern auch die geistigen und seelischen. Schließlich steigt die Zahl der Patienten in Stebers Abteilungen. Und es ist nicht nur die Demenz, die vielen zu schaffen macht. Ein großer Teil der Patienten kämpfe mit Depressionen.
Damit man mit Demenz besser zurechtkommt, kann jeder ein bisschen vorbauen. Davon ist Professor Hans Gutzmann überzeugt. Er ist Präsident der Deutschen Gesellschaft für Gerontopsychiatrie und Gerontopsychotherapie. Wer sich beispielsweise bemüht, mit seinen Mitmenschen gut auszukommen, erhöhe seine Chance, dass er später als Demenzpatient wohlwollender behandelt wird. Zudem sei die eigene Zufriedenheit wichtig, um mit Demenz besser leben zu können. Gleichzeitig betont er aber auch: Mit zunehmendem Alter steige das Risiko, an Demenz zu erkranken.
Doch nicht nur die persönliche Lebensführung ist nach Angaben von Gutzmann wichtig, um gesund alt zu werden, sondern auch Bildung und Geld. „Betuchte und Gebildete haben eine wesentlich höhere Chance, gesund alt zu werden.“Studien aus London hätten ergeben, dass Menschen in gut situierten Lagen im Schnitt 20 Jahre länger leben als Menschen in Arbeiterbezirken.
Hat man ein sehr hohes Alter erreicht, tritt nach Einschätzung von Gutzmann oft trotz guter Gesundheit eine „gewisse Lebenssattheit“ein. Irgendwann ist es genug. Gehen muss jeder einmal. Vor diesem Hintergrund überrascht es nicht, dass selbst der rüstige Karl Brodbeck auf die Frage, was er sich noch wünscht, antwortet: „Dass es nicht mehr allzu lange geht.“Aber warum? „Man ist eben doch viel allein“, sagt er leise und erzählt von Telefonaten mit einer 94-jährigen Bekannten, der es nicht anders gehe.
Ob sich das Maria Kagerer mit ihren 108 Jahren auch wünscht? Wer ihr zusieht, wie zielstrebig sie mithilfe des Rollators im Pflegezentrum Ederer in Mering zum Mittagessen läuft, wie sie die anderen Bewohner begrüßt, spürt eine große Lebensfreude. „Alles, was geht, will sie selbstständig machen“, sagt ihre Tochter Sieglinde Brunnhuber. Neun Jahre lang lebte sie bis vor etwa eineinhalb Jahren mit ihrer Mutter in ihrem Haus. Dann ging es
Karl Brodbeck wäscht, bügelt und kocht noch selbst Maria Kagerer braucht nicht einmal eine Brille
nicht mehr. Nachts hat die Mutter oft gerufen. Auch die Treppen machten Probleme. Man darf nicht vergessen: Sieglinde Brunnhuber ist selbst 77 – sieht aber viel jünger aus.
Ist es also doch die Veranlagung, die über ein langes, gutes Leben entscheidet? „Die Gene spielen sicher eine Rolle“, sagt Sieglinde Brunnhuber. „Aber meine Mutter hat auch immer gearbeitet – eine harte Arbeit als Hausangestellte.“Auf die positive Einstellung komme es vor allem an. Fragt man Maria Kagerer, wie es ihr geht, schaut sie einem tief in die Augen, lächelt und sagt: „Ich bin zufrieden.“Woran sie Freude hat? Sie deutet aus dem Fenster. Das Grün der Bäume, die Vögel, das gefalle ihr. Sie liest aber auch noch. Ohne Brille. Nicht irgendetwas. Das Gotteslob. Und ein weiteres Gebetbuch. Dann blickt sie auf ihre Tochter. „Du bist zu warm angezogen“, sagt sie im fürsorglichen Ton. „Man bleibt immer Kind“, erklärt Sieglinde Brunnhuber.
Ob sie selbst auch 108 werden will? „Nein“, antwortet Sieglinde Brunnhuber so schnell, dass man beinahe erschrickt. Irgendwann sei man ja doch auf Hilfe angewiesen. Und geistig nicht mehr so fit. „Meine Mutter lebt jetzt oft in ihrer eigenen Welt.“Doch dann blickt sie zu ihr und beginnt zu erzählen, von deren 107. Geburtstag. Der Landrat habe zu ihrer Mutter gesagt, er bringe einer schönen Frau Blumen, und sie habe sofort geantwortet, das Kompliment könne sie nur zurückgeben. Als der Bürgermeister daraufhin kurz etwas stutzte, habe sie schnell von zwei schönen Männern gesprochen. Dann habe sie zum Pfarrer geblickt und betont: „Aber Sie sind der Schönste!“