Wird es doch noch knapp in Großbritannien?
Die Labour-Partei holt auf. Die Konservativen versuchen jetzt, bei den Arbeitern zu punkten
Sunderland sprechen, meinen sie die Menschen im Nordosten Englands.
Vor nicht allzu langer Zeit noch mussten sozialdemokratische Kandidaten hier kaum um ihre Sitze kämpfen. Das Herz von Labour schlug im von der Arbeiterklasse geprägten Norden Englands. Das Wahlverhalten wurde in der Regel in der Familie weitervererbt. Einmal Labour, immer Labour. Die Konservativen waren abgetaucht. Doch dieses Jahr verteilen auch sie Handzettel und sogar Regierungschefin Theresa May schaute vorbei. Die Tories profitieren von den anstehenden Brexit-Verhandlungen und der Unzufriedenheit der Menschen mit Labour. Die Premierministerin genießt in jenem Landesteil vor allem deshalb Popularität, weil sie das Thema EU mit ihrem harten Brexit- und Anti-Einwanderungskurs erfolgreich besetzt. Ihre Strategie, die Labour-Partei in deren Hochburgen zu attackieren, scheint zumindest in Teilen aufzugehen.
Politexperte Simon Hull würde das jedoch nicht überbewerten. Seiner Meinung nach erinnert Theresa ● Das Verfahren Das Land hat 650 Wahlkreise für ebenso viele Sitze im Unterhaus. Um einen zu ergattern, müssen Politiker in ihrem Wahlkreis die meisten Stimmen holen – Motto: „The winner takes it all“, der Gewin ner räumt alles ab. In Deutschland ha ben Wähler eine Erststimme für Di rektkandidaten und eine Zweitstimme, die für die Verteilung der Sitze an die im Parlament vertretenen Parteien maßgeblich ist. Die Briten haben nur eine Erststimme. ● Von dem Wahlsystem profitieren in erster Linie die großen May viele Menschen an ihre Vorgängerin Margaret Thatcher, die für den Verfall der alten Industriezentren in Nordengland verantwortlich gemacht wird. „Darüber herrscht bis heute eine enorme Verbitterung, diese Wunde ist nicht verheilt“, so Hull. Dass die Konservativen trotzdem zulegen könnten, sage mehr über die Labour-Partei und „ihre Selbstzufriedenheit“aus. „Sie sahen den Erfolg in Orten wie Sunderland als gegeben an.“
Das könnte sich rächen, indem viele ehemalige Labour-Anhänger Parteien – aber auch starke Regional parteien. Wie die schottische Natio nalpartei SNP: In England, Wales und Nordirland tritt sie nicht an, in Schottland gewann sie 2015 aber 56 der 59 Wahlkreise. Sie wurde dritt stärkste Kraft – mit nicht mal 5 Prozent der Stimmen im Königreich. ● Wahlumfragen sind mehr Stimmungsbild als Vorhersa ge, weil es auf umkämpfte Wahlkreise ankommt. Beispiel: 2005 hatte La bour unter Tony Blair nur drei Prozent punkte Vorsprung, aber eine beque me Parlamentsmehrheit. (dpa) der Wahl fernbleiben oder sich für kleine Parteien entscheiden könnten. In etlichen Gegenden gab es Mehrheiten für den Brexit und bei der letzten Wahl fuhr die rechtspopulistische Partei Ukip mit ihrer Anti-Einwanderungsrhetorik Erfolge ein. Diese Stimmen will nun May übernehmen, um sich eine überwältigende Mehrheit im Parlament zu sichern.
Die Labour-Partei hat keine klare Strategie zum EU-Ausstieg, auch weil sich die meisten Abgeordneten – anders als das Gros ihrer Wähler – für den Verbleib in der Staatengemeinschaft ausgesprochen haben. Die Brexit-Fans haben das nicht vergessen. Deshalb versucht Labour-Chef Jeremy Corbyn seit Wochen, die Aufmerksamkeit auf innenpolitische Themen wie Sicherheit, Bildung und das Gesundheitswesen zu lenken.
Laut Umfragen mit gewissem Erfolg: Denn der Abstand zu den Konservativen ist geschmolzen. Doch die Wahlkämpfer im Nordosten Englands trauen den Meinungsforschern nicht. Ihre Realität? Sie hören an den Wohnungstüren im Nordosten Englands vor allem zwei Themen, die die Menschen umtreiben: Brexit und Einwanderung. Es sind Theresa Mays Themen.
Wie die Briten ihr Parlament wählen