Der verschlungene Pfad einer Glocke
(Wieder-)Entdeckung in der neuen Ausstellung des Nördlinger Stadtmauermuseums
Viele Jahre befand sich im Bestand des Stadtmuseums in Nördlingen eine große Glocke. Sie war im Erdgeschoss des Museums ausgestellt und zeigt neben einer Kreuzigungsszene die Inschrift „1494 lucas s. marcus s. matheus s. johannes”. Aus welcher Kirche die Glocke stammte, war nicht bekannt. Erst die Vorarbeiten zur neuen Dauerausstellung brachten Museumsleiterin Andrea Kugler durch einen Zufall auf die richtige Fährte und verhalfen einer alten Glocke aus der St.-Georgs-Kirche zu neuer Bekanntheit.
Ein undatierter Zeitungsausschnitt in der Ernst Frickhinger’schen Erinnerungssammlung, die im Stadtmuseum verwahrt ist, trägt die Überschrift „Unseren Glocken zum Abschied“. Anlässlich der Abgabe zweier Glocken an die Heeresverwaltung zur Gewinnung von Metall für die Rüstung im Ersten Weltkrieg, beschreibt der Artikel sieben Glocken aus dem Turm der St.-Georgs-Kirche. Gemäß der 1915 erlassenen Verordnung über Beschlagnahme, Meldepflicht und Ablieferung von Metallgegenständen wurden in Nördlingen neun Glocken abgenommen und zwei davon abgeliefert. Die beschriebenen sieben Glocken waren jedoch aufgrund ihres Alters und ihrer Entstehung vor 1770 von der Ablieferungspflicht befreit. An sechster Stelle beschreibt der Zeitungsartikel eine Glocke mit Inschrift, die der im Stadtmuseum gleicht, als das „Leichenglöcklein“von 1494, das „bei [der] Beerdigung kleiner Kinder geläutet“werde.
Die Glocke von 1494 erwähnt schon Daniel Eberhard Beyschlag 1801 im ersten Band seiner „Beyträge zur Nördlingischen Geschlechtshistorie“als kleine Leichenglocke in St. Georg. Eine andere, vermutlich irreführende Bezeichnung verwendet dagegen der Nördlinger Chronist Johannes Müller in seiner Kunst- und Gewerbsgeschichte nach 1818 (handschriftliches Manu- skript, Stadtarchiv Nördlingen, fol. 16): „Wetterglöklein 1494 (...) Sie hängt oben über der Thürmer Stuben auf dem Boden wo sie zu Zeiten Vor und Nachmittags gelitten wird, und wen die Arbeitsleute zum Brod gehen. Daher sie das Brodglöklein heißt, und nach der Tradition der Thürmer von einer Nonne gestiftet worden.“
Die Rückkehr der sieben unversehrten Glocken nach dem Ersten Weltkrieg war ein großes Fest. Eine Meldung der Nördlinger Zeitung am 26. Oktober 1927 feierte die Wiederkehr von vier Glocken in die St.-Georgs-Kirche und drei Glocken in die Spitalkirche am Dienstag, den 25. Oktober. Sie wurden mit großer Freude in einem Festzug in Nördlingen empfangen und auf dem beflaggten Marktplatz begrüßt. Zwei Sonntage lang feierte man mit Gottesdiensten, Festakt und Festabend. An den zwei Folgetagen war nach einem Gottesdienst vor allem die Jugend Nördlingens und des Rieses eingeladen.
Die „Kunstdenkmäler von Bayern, Stadt Nördlingen“berichten 1940, dass die Glocke von 1494 zusammen mit zwei weiteren noch im Glockenstuhl von St. Georg zu finden sei. Einem Fotovermerk im Stadtarchiv zufolge, wurde sie 1942 in die Spitalkirche verbracht, um sie im Zweiten Weltkrieg ein weiteres Mal vor dem Einschmelzen zu bewahren. Nach Sigrid Thurn, die 1967 den „Deutschen Glockenatlas“zusammenstellte, ist das Wandern von Glocken oft zu beobachten. In ihrem Glockenatlas findet sich eine Beschreibung der Glocke von 1494 in der Spitalkirche. Im Bildteil ist sie unter Nr. 47 im Glockenstuhl hängend zu sehen.
Blickfang, der Geschichten erzählt
Als der Deutsche Glockenatlas nach jahrelangen Vorarbeiten 1967 gedruckt wurde, befand sich die Glocke von 1494 jedoch bereits als Ausstellungsstück im Stadtmuseum, das 1959 im ehemaligen Heilig-Geist Spital neben der Spitalkirche eingerichtet worden war. Wann und warum sie dort vom Glockenstuhl abgenommen wurde und ins Museum kam, ist bislang nicht bekannt. In der neuen Ausstellung zur Kirchengeschichte Nördlingens, die 2017 neu eröffnete, ist sie jedenfalls ein Blickfang, der einiges zu erzählen hat.