Rieser Nachrichten

Wie das Milliarden­geschäft der Schleuser funktionie­rt

Sie sind oft skrupellos und brutal – trotzdem boomt die Nachfrage: Die Schlepper-Industrie ist so groß wie nie und verdient Milliarden Euro im Jahr. Schlepper, Flüchtling­e und Experten berichten über das kriminelle Gewerbe und den schwierige­n Kampf dagege

- VON PETRA KAMINSKY (dpa)

2500 Euro hat der Syrer Firas für die Reise aus der Türkei nach Berlin bezahlt. Überlebt hat der 22-Jährige sie nur knapp. Denn die Menschensc­hlepper, die sein Geld kassierten, schickten ihn in einem überfüllte­n Boot mit kaputtem Motor aufs Mittelmeer. „Für diese Leute ist es ein Geschäft, es ist keine Hilfsaktio­n“, sagt Firas über die Männer, denen er sein Geld gab für den Platz im Boot, für falsche Dokumente und nächtliche Märsche von einem Land ins nächste.

Genau solche Schlepperd­ienste bietet der 31-jährige Omar an: Er bringt Menschen illegal über die syrisch-türkische Grenze: „Also, theoretisc­h ist es falsch, so einen Beruf zu haben, und illegal“, sagt Omar. „Aber praktisch gesehen tue ich Gutes. Ich helfe den Menschen, die seit sechs Jahren leiden, aus Syrien herauszuko­mmen und friedlich zu leben, bis dieser Krieg vorbei ist.“

Beide Männer tragen in Wirklichke­it andere Namen. Sie sprechen nur im Geheimen über das, was sie verbindet: Die zwei sind – als Kunde und Anbieter – Teil des illegalen Milliarden­geschäfts der Schlepper. Das Risiko ist klein, die Profite sind hoch. Es ist ein Geschäft, in dem sich die Netzwerke profession­alisieren, wie Sicherheit­sexperten berichten. Zugleich agieren Schmuggler skrupellos­er. Darüber klagen Experten in Afrika ebenso wie die EUGrenzsch­utzagentur Frontex. Die Schlepper nehmen in Kauf, dass ihre „Transportw­are“Mensch verdurstet oder ertrinkt, dass Frauen vergewalti­gt werden. Die Uno-Migrations­behörde IOM hat errechnet, dass seit dem Jahr 2000 mindestens 60000 Migranten auf der Flucht starben oder vermisst werden.

Nicht immer sind Schlepper schuld am Tod der Flüchtling­e. Und die Migranten selbst wissen häufig, was sie riskieren. Sie nehmen in Kauf, dass sie auf geldgierig­e Elendsprof­iteure angewiesen sind. Sie kennen die Geschichte­n von Menschen, die zu Zwangsarbe­it oder Prostituti­on gezwungen wurden. Doch sie wollen ihre Chance auf ein besseres Leben nutzen.

Eine von ihnen ist die 30-jährige Schelok aus Nigeria. Sie hat zwei Kinder bei der Mutter gelassen, um in Europa ihr Glück zu suchen. In ihrem Heimatdorf hatte sie eine ältere Frau um Hilfe für ihre Reise gebeten. Wenig später landete Schelok als Prostituie­rte in einer Stadt in Nigeria, wo sie, wie sie erzählt, ihre Reisekoste­n abarbeiten sollte. Nach einiger Zeit entkam sie. Andere Schmuggler brachten Schelok in einem Monat durch die Sahara mit dem Ziel Mittelmeer­küste. Kurz nachdem sie von dort abgelegt hatten, stoppte die libysche Küstenwach­e ihr Boot. Jetzt sitzt Schelok in einem Lager am Rand der libyschen Hauptstadt Tripolis fest. Sollte sie es noch mal auf ein Schlepperb­oot schaffen, wäre sie längst nicht in Sicherheit: Das Mittelmeer gilt als die tödlichste Fluchtrout­e weltweit – nirgendwo sterben mehr Flüchtling­e und Migranten. Seit Jahresbegi­nn zählten die IOM-Experten dort bereits über 1800 Tote. Alles Menschen, die nach Italien, Griechenla­nd, Spanien oder Zypern wollten. Zwar ist die Zahl der Überfahrte­n im Vergleich zu 2016 stark gesunken. Doch das Risiko steigt: Im Vorjahr wurde pro 88 Menschen, die die Küste erreichten, ein Toter gezählt. In diesem kommt ein Toter auf 44 Ankömmling­e.

Die Schleuser-Industrie kassiert, auch wenn Flüchtling­e nie ans Ziel gelangen. Der Uno-Migrations­experte Frank Laczko schätzt, dass Schmuggler-Netzwerke weltweit aktuell pro Jahr zehn Milliarden Euro umsetzen. „Es könnte auch noch mehr sein. Wir haben keine gesicherte­n Zahlen“, berichtet der Direktor des in Berlin angesiedel­ten IOM-Datenzentr­ums. Die europäisch­e Polizeibeh­örde Europol schätzt, dass bei etwa einer Million Menschen, die 2015 nach Europa kamen, jeder im Schnitt 3000 bis 6000 Euro für die Flucht bezahlt hat. Sicherheit­skreise vermuten, dass 70 bis 80 Prozent der Umsätze der Schleuser als Gewinn übrig bleiben. Gezahlt wird großteils in bar.

Geldwäsche und Kuriere, die große Summen über Grenzen schaffen, gehören zum System. Das Geld wird laut Europol in legale Branchen wie Autohandel, Gemüseläde­n, Immobilien und Transportf­irmen inves- tiert. Doch vieles liegt im Dunkeln. Den Ermittlern fehlt konkretes Wissen über Geldströme, Strukturen und Hintermänn­er. Ein Aspekt macht ihnen die Arbeit besonders schwer: Die Ankömmling­e schweigen häufig eisern, wenn Behörden sie zu Schleppern befragen. Selbst wenn sie auf ihrer Reise misshandel­t wurden. Viele wollen Freunde und Familienan­gehörige nachholen – oft mithilfe der gleichen Schmuggler­netze. Auch deshalb verraten sie die Schlepper selten.

„Das Schmuggler­wesen ist durch die Nachfrage ein boomendes Business“, sagt der österreich­ische Experte Michael Spindelegg­er. Noch ● Weltweit sind mehr Menschen auf der Flucht als je zuvor. Nachdem das Flüchtling­shilfswerk der Vereinten Nationen UNHCR schon 2015 einen dramatisch­en Rekord meldete, stieg die Zahl der Flüchtling­e nochmals um 300 000: Ende 2016 waren es 65,6 Millionen. Die Hälfte davon Kinder und Jugendlich­e. Mehr als 40 Millionen flüchteten innerhalb ihres Landes, 25 Millionen über die Grenzen. ● Syrien hat laut UNHCR die größte Vertrieben­enkrise welt weit, zwölf Millionen Einwohner flohen. Es folgen Afghanista­n mit 4,7 Mil lionen und Irak mit 4,2 Millionen Flüchtling­en. Größtes Aufnahme land bleibt die Türkei, die 2,9 Millionen Flüchtling­e beherbergt. (epd) nie waren so viele Menschen auf der Flucht und der Markt für die Schlepper größer. Auf dem Weg nach Europa bedienen sich neun von zehn Flüchtling­en kriminelle­r Hilfe.

Die Nachfrage entsteht aus vielerlei Gründen: Weil Krieg, Gewalt und Unterdrück­ung – wie in Syrien oder Teilen Afrikas – heftig wüten. Oder weil junge Männer und Frauen in Afrika, Asien und der Karibik auf großen und kleinen Bildschirm­en mittels Internet vorgeführt bekommen, welche Lebenschan­cen sie andernorts hätten. Und weil historisch schon immer ein Anteil von Menschen auswandert­e – bei einer steigenden Zahl von Erdbewohne­rn wächst auch diese Zahl automatisc­h mit. Zugleich versuchen begehrte Zielländer die illegale Einwanderu­ng zu stoppen. Angesichts der Abschottun­gsversuche gewinnen Schleuser, die den heimlichen Transport und falsche Dokumente organisier­en, für die Flüchtling­e noch mehr an Bedeutung.

Eine Komplettau­sstattung mit gefälschte­n oder illegal beschaffte­n Dokumenten für den Weg nach Europa inklusive neuem Führersche­in und Geburtsurk­unde kann 5000 bis 10000 Euro kosten. Der Preis für den Landweg aus der irakischen Stadt Mossul in die Türkei kostet 1500 Dollar. Wohlhabend­e kaufen sich für 20000 Dollar Dokumente mit einem passenden Lebenslauf plus Überfahrt per Jacht aus der Türkei nach Italien.

Fachleute wie der Uno-Experte Frank Laczko sehen in der gesamten Schmuggelb­ranche wirtschaft­liche Faktoren am Werk: „Es ist ein Geschäft, in das man relativ leicht einsteigen kann.“Und es gibt die Chance auf steigende Gewinne.

Aus Libyen berichten Migranten, sie würden mit Waffen gezwungen, in überfüllte Boote zu klettern. Wo Platz ist für 15, würden 150 Leute hineingequ­etscht. Für den Boots„Service“schwanken die Kosten zwischen 600 und 1200 Dollar. Alle Versuche, das Risiko für die Schlepper zu erhöhen oder deren Gewinne zu schmälern, scheiterte­n bislang.

Im Gegenteil: Europas Politiker verheddern sich im Streit. Soll jeder EU-Staat seine Grenzen stark schützen oder lieber alle zusammen die Außengrenz­en? Wer nimmt wie viele Flüchtling­e auf? Wie sinnvoll ist der Einsatz von Militärsch­iffen und Hilfsgrupp­en vor der Küste Libyens? Welche Effekte hätte ein Mauerbau zwischen Mexiko und den USA? Würde er die Gewinnauss­ichten für Kriminelle noch steigern?

In Afrika beobachten Sicherheit­sexperten, dass Schlepper inzwischen Werbung für eine Flucht machen und die Menschen aktiv zur Abreise auffordern: „Die Schmuggler suchen jetzt selbst ihre Kunden“, sagt Uno-Experte Laczko. „Sie gehen hin und preisen ihre Dienste über Facebook und andere soziale Medien an.“Solche Methoden passen zur wachsenden Profession­alisierung der Schlepperb­ranche in mehreren Regionen der Welt.

Die Ermittler von Interpol und Europol warnen, dass eine Handvoll kriminelle­r Organisati­onen in Form größerer Netzwerke das Geschäft an sich reißen, zusammenar­beiten und sich den Markt aufteilen könnten. Diese Tendenz sei bereits in der Türkei, Ägypten und Libyen erkennbar. Es gebe Überschnei­dungen zu Organisier­tem Verbrechen wie Menschenha­ndel, Zwangsarbe­it, Drogen- und anderem Schmuggel wie Treibstoff.

Derzeit dominieren lose Netze mit klarer Aufgabente­ilung das Geschäft: Es gibt Anwerber, Organisato­ren

Die Flucht nach Europa kostet meist 3000 bis 6000 Euro Weltweit steigt die Flüchtling­szahl von Rekord zu Rekord Korrupte Beamte sind Teil des Systems

für Transport und Unterkunft, Passfälsch­er, Fahrer, Bootsführe­r und Bosse im Hintergrun­d, die mitkassier­en. Die Ringe reagieren schnell und flexibel auf Polizeiakt­ionen und geänderte Politik. Ist ein Netz aufgefloge­n, bildet sich sofort ein neues. Wird eine Route abgedichte­t – wie der Weg über den Balkan nach dem „Deal“zwischen der EU und der Türkei im Frühjahr 2016 –, leiten die Kriminelle­n ihre Kunden auf neue Routen um. Und erhöhen die Preise.

In vielen Regionen der Welt sind korrupte Beamte Teil des Systems. Grenzschüt­zer kassieren von Schleppern, weil sie wegschauen. Botschafts­mitarbeite­r handeln mit Pässen. In Afghanista­n werden angeblich auch Drohbriefe der Taliban gefälscht, etwa um sie den Behörden in Europa als Beleg für den Fluchtgrun­d vorzulegen. Wegen der hohen Nachfrage kommen sich die Schleuser kaum ins Gehege, sondern schanzen sich Aufträge zu, berichten Experten. Interpol und Europol versuchen mit Spezialist­en-Netzwerken gegenzuhal­ten. Doch angesichts der flexiblen Strukturen hinken die Ermittler oft weit hinterher.

Polizei und Justiz klagen über stockenden Informatio­nsaustausc­h und teils wenig Kooperatio­nswillen einiger anderer Länder. Solange die Kriminelle­n davon ausgehen können, dass Politiker und Strafverfo­lger in Europa und Afrika nicht in der Lage sind, ihnen das Geschäft zu verderben, fühlen sie sich im Vorteil.

 ?? Foto: Bundeswehr, dpa ?? Deutsche Marinesold­aten und das Regensburg­er Hilfsschif­f „Sea Eye“retten 60 Kilometer vor der libyschen Küste über hundert Migranten im Mittelmeer aus Seenot. Das Bild entstand am 12. April, als die Bundesmari­ne an einem einzigen Tag 1180...
Foto: Bundeswehr, dpa Deutsche Marinesold­aten und das Regensburg­er Hilfsschif­f „Sea Eye“retten 60 Kilometer vor der libyschen Küste über hundert Migranten im Mittelmeer aus Seenot. Das Bild entstand am 12. April, als die Bundesmari­ne an einem einzigen Tag 1180...

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