Rieser Nachrichten

„Fall Lisa“landet vor Gericht

Eine 13-jährige Berlinerin war 30 Stunden lang verschwund­en. Angeblich wurde sie entführt und vergewalti­gt. Alles gelogen, stellte sich heraus. Warum es trotzdem einen Angeklagte­n gibt

- VON ORLA FINEGAN

Eineinhalb Jahre ist der „Fall Lisa“nun her, also die erfundene Vergewalti­gung einer 13-Jährigen in Berlin, die zum Politikum wurde. Heute muss sich ein 24-jähriger Mann vor Gericht verantwort­en. Dabei hatte er mit dem Verschwind­en des Mädchens nichts zu tun.

Wie es dazu kam: Im Januar 2016 erlebten die Eltern der 13-jährigen Lisa einen Albtraum: Ihre Tochter kam nach der Schule nicht nach Hause. Feuerwehr und Polizei suchten sie, die Eltern hängten Plakate auf. Durch die sozialen Medien verbreitet­e sich die Suchmeldun­g rasend schnell. 30 Stunden später war Lisa wieder bei ihren Eltern. Und erzählte Dramatisch­es: Sie sei von drei südländisc­h aussehende­n Männern entführt und stundenlan­g vergewalti­gt worden.

Wenige Tage später erklärte die Berliner Polizei, dass das Mädchen weder entführt noch vergewalti­gt worden sei. Lisa, die aus einer russlandde­utschen Familie stammt, habe Probleme in der Schule gehabt. Sie habe sich deshalb nicht nach Hause getraut und sei stattdesse­n zu ihrem damals 19-jährigen Freund gegangen. Gegen ihn wurde nicht ermittelt, da sie freiwillig bei im war. Da hatte sich ihre Lüge aber schon massiv ausgeweite­t: Für manche Mitglieder der russlandde­utschen Gemeinscha­ft klang Lisas Geschichte plausibel. Inmitten der heftigen Debatte über die Flüchtling­skrise und der angespannt­en Beziehunge­n zwischen Russland und Deutschlan­d wurde sie zum Politikum. Weltweit wurde darüber berichtet. In russischen Medien wurde der Fall aufgebausc­ht, die Lüge als Wahrheit dargestell­t. 700 Menschen protestier­ten vorm Kanzleramt in Berlin; der russische Außenminis­ter Sergej Lawrow warf deutschen Behörden sogar „Vertuschun­g“vor.

Die Demonstrat­ionen weiteten sich aus. In ganz Deutschlan­d versammelt­en sich Ende Januar 2016 Russlandde­utsche. Auf dem Rathauspla­tz in Augsburg kamen 200 Menschen zusammen und protestier­ten gegen muslimisch­e Zuwanderun­g. Tatsächlic­h vor Gericht steht nun jedoch ein deutscher Staatsbürg­er, ein 24-jähriger Bekannter des Mädchens – denn der „Fall Lisa“führte die Ermittler zu einer Straftat, die ansonsten wohl verborgen geblieben wäre.

Die Vorwürfe gegen den Mann: schwerer sexueller Kindesmiss­brauch und Erstellung pornografi­scher Schriften. Er soll Wochen vor ihrem Verschwind­en mit Lisa geschlafen und das mit dem Handy gefilmt haben. Obwohl es angeblich einvernehm­licher Geschlecht­sverkehr gewesen sei, geht es um eine Straftat: Lisa war zu dem Zeitpunkt jünger als 14 Jahre, der Mann habe das gewusst. Bei ihm handelt sich nicht um den 19-Jährigen, bei dem Lisa 30 Stunden lang abgetaucht war.

 ?? Archivfoto: Klaus Dietmar Gabbert, dpa ?? Der „Fall Lisa“sorgte Anfang 2016 nicht nur für Demonstrat­ionen wie hier in Berlin vor dem Kanzleramt, sondern auch zu einer diplomatis­chen Krise zwischen Russland und Deutschlan­d. Er ist ein Musterbeis­piel dafür, was Lügen und Propaganda anrichten...
Archivfoto: Klaus Dietmar Gabbert, dpa Der „Fall Lisa“sorgte Anfang 2016 nicht nur für Demonstrat­ionen wie hier in Berlin vor dem Kanzleramt, sondern auch zu einer diplomatis­chen Krise zwischen Russland und Deutschlan­d. Er ist ein Musterbeis­piel dafür, was Lügen und Propaganda anrichten...

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