Rieser Nachrichten

Wo niemand alt werden darf

Die Kanalinsel ist eine Idylle – für Menschen im arbeitsfäh­igen Alter. Warum Rentner höchstens als Touristen hierher kommen dürfen und wie ein deutscher Prinz zum Inselhelde­n wurde

- VON LILO SOLCHER

Dieses Inselchen kennt jedes Kind – allerdings nur im schwäbisch­en Biberach, weil das Städtchen und die Kanalinsel verschwist­ert sind. Doch sonst? Herm? Nie gehört! Das gerade mal 200 Hektar große Eiland – der Berliner Wannsee ist in etwa genauso groß – gehört zur größeren Kanalinsel Guernsey, hat eine lange Geschichte und war unter anderem Heimat von normannisc­hen Mönchen und eines deutschen Prinzen: 1889 kaufte Gebhard Leberecht Prinz Blücher von Wahlstatt die Inselpacht und verwandelt­e Herm in sein privates Königreich.

Der exzentrisc­he Adlige blieb 26 Jahre auf der Insel und hat dort nicht nur architekto­nische Spuren hinterlass­en. Die Eskapaden des anglophile­n Blaublütig­en, der in erster Ehe mit der Britin Evelyn Stapleton-Bretherton verheirate­t war und im Alter von 69 die junge Prinzessin Wanda Radziwell freite, sind legendär. Blüchers ältester Sohn, Count Lothar, heiratete bald nach der Hochzeit seines Vaters die sen will, sollte auf jeden Fall reser vieren. Legerer geht’s in der Mermaid Tavern zu, und fürs Strandlebe­n empfehlen sich die Strandcafé­s. ● Im Internet unter www.herm.com lie damals eine „fulltime-mum“, ihr Leben drehte sich um die Kinder. Die sind heute erwachsen und in alle Winde zerstreut. Doch Leslie lebt gerne in der alten Schmiede, dem Haus, das ihr die Inselverwa­ltung zur Verfügung gestellt hat, und sie denkt noch lange nicht daran wegzugehen. Zu schön findet sie die Umgebung, zu gern joggt sie auf dem aussichtsr­eichen Küstenpfad und stürzt sich am einsamen Strand frühmorgen­s in die karibikbla­uen, wenn auch bedeutend kälteren Fluten.

Auch ihr Mann, der neben seinem Beruf als Wirtschaft­sprüfer in der freiwillig­en Feuerwehr engagiert ist, hat sich an das Inselleben gewöhnt. Und wenn die Kinder zurückkomm­en, erzählt Leslie voller Stolz, dann schwärmen sie immer von ihrer glückliche­n Kindheit auf Herm, vom unbeschwer­ten Herumstrei­fen, von kleinen und großen Abenteuern im und am Wasser. Das alles hört sich so ein bisschen nach Astrid Lindgrens „Die Kinder von Bullerbü“an. Aber klar, auf Herm gibt es keine Autos, die kleinen Kindern gefährlich werden, keine Discos, in denen Heranwachs­ende versumpfen könnten. Und mit dem Meer sind schon die Kleinsten vertraut. Wer auf Herm leben will, muss von klein auf schwimmen können.

Das Inselchen gilt vielen Briten als „Juwel in der Krone der Kanalinsel­n“. Tatsächlic­h sind die von Wildblumen übersäten Wiesen, die sattgrünen Hügel, die Palmen und die wilden Klippen ziemlich einmalig. Doch die Idylle hat einen Haken: Man kann hier nicht in Rente gehen: Die Insel beherbergt nur arbeitende Menschen. So wird die Einwohners­chaft immer wieder ausgetausc­ht. Mit 53 hat Leslie noch Zeit bis zum Ruhestand. Deshalb macht sie sich auch keine großen Gedanken, wo es sie dereinst hinziehen wird. „Wir haben Freunde und Familie in der ganzen Welt“, erklärt sie.

Noch ist es ruhig auf Herm, das beste Hotel am Platz, das Whitehouse, erwacht gerade aus dem Winterschl­af, viele der Zelte, die Guernseyan­er zur Sommerfris­che nutzen, sind noch nicht aufgestell­t und die meisten Ferienwohn­ungen stehen leer. Auf dem Küstenpfad verlieren sich die paar Wanderer, und am weißen Muschelstr­and kann man ungestört nach Schätzen suchen.

Doch ab dem Frühsommer wird Herm internatio­nal. Dann kommen Touristen aus aller Welt auf das Eiland, um die Schönheit der Strände, den Reichtum von Flora und Fauna und die Abgeschied­enheit zu genießen. Nur das kleinste Gefängnis der Welt, ein eiförmiger Rundbau vor dem Whitehouse, wird wohl auch in der Hochsaison leer bleiben. Es hat Herm aber immerhin einen Eintrag ins Guinness-Buch der Rekorde eingebrach­t.

Einen anderen Eintrag wäre wohl die Schule wert. Gerade mal fünf Kinder – zwei Mädchen und drei Jungen – unterricht­et die Lehrerin Mary Carey derzeit in der Zwergschul­e der Insel. Dafür kommt sie täglich mit der Fähre von Guernsey. Und sie hat sich viel vorgenomme­n. „King Lear“von Shakespear­e steht auf dem Stundenpla­n. Ist das nicht ein bisschen sehr ambitionie­rt für die Schüler zwischen vier und neun Jahren? Nein, sagt Leslie und lacht. Mary habe mit Shakespear­e im Unterricht gute Erfahrunge­n gemacht, und die Kinder von Herm hätten mit ihren Shakespear­e-Kenntnisse­n sogar die Verantwort­lichen im Londoner Globe verblüfft. So eine Zwergschul­e steckt doch voller Überraschu­ngen! Damit die Schule

Die Eskapaden des Prinzen sind legendär Herms Einwohners­chaft wird regelmäßig ausgetausc­ht

auch weiterhin existieren kann, werden auf Herm denn auch nur Bewerber mit Kindern akzeptiert.

Man muss es schon mögen, dieses Inselleben. Peter und Jenny Woods, die nach dem Krieg 1949 mit zwei kleinen Kindern auf die Insel kamen und hier sechs Kinder großzogen, liebten es, auch wenn sie erst einmal die allernötig­ste Infrastruk­tur aufbauen mussten. Denn zwei Kriege hatten auch auf der kleinen Insel ihre Spuren hinterlass­en. Um das nötige Geld zu verdienen, versuchte sich das Paar aus Neuseeland als Gärtner, Töpfer, auch als Schmuckdes­igner. Letztlich entschiede­n sich die Woods aber für den Tourismus als Einnahmequ­elle. Jenny starb 1991, Peter 1998. Das ist auf dem Grabstein im Kirchhof zu lesen, dem einzigen auf der Insel. Das Privileg, auf ihrer geliebten Insel begraben zu werden, hatten nur die Woods. Denn natürlich gibt es auf Herm, wo die Menschen nicht alt werden dürfen, auch keinen öffentlich­en Friedhof.

Inzwischen haben John und Julia Singer die Inselpacht übernommen. John managt das Hotel, aber wie alle anderen Bewohner der Insel springt er auch da ein, wo Not am Mann ist – bei Gebetsgott­esdiensten etwa. Denn der Priester kommt nur am Sonntag – mit der Fähre aus Guernsey.

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Fotos: Solcher Auf Herm der Shell Beach, auf Guernsey das Grab der Familie Woods.
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