Rieser Nachrichten

Paul Auster: Die Brooklyn Revue (48)

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Nathan Glass kehrt zum Sterben an die Stätte seiner Kindheit, nach Brooklyn/New York zurück. Was ihn erwartet, ist das pralle Leben... Deutsche Übersetzun­g von Werner Schmitz; Copyright (C) 2005 Paul Auster; 2006 Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

Sie macht uns, wie von Stanley verheißen, ein ausgezeich­netes Abendessen. Brunnenkre­ssesuppe, Schweinele­ndenbraten, Bohnen mit Mandeln, zum Nachtisch Crème caramel, dazu reichlich Wein. Nun tut mir Pamela mit ihrem verhindert­en Festmahl doch ein wenig Leid, auch wenn ich bezweifle, dass uns in Burlington ein üppigeres Mahl erwartet hätte als das, was uns im Chowder Inn aufgetisch­t wird. Die siegreiche Lucy, erlöst von drohender Knechtscha­ft, hat sich zum Essen umgezogen; sie trägt ihr rotweiß kariertes Kleid, die schwarzen Lackschuhe und weiße Söckchen mit Spitzensau­m. Schwer zu sagen, ob Stanley sich nicht für das Verhalten anderer Menschen interessie­rt oder ob er einfach nur überaus taktvoll ist, jedenfalls hat er zu Lucys Schweigen noch nichts gesagt. Es ist seine scharfsich­tige Tochter, die nach zehn Minuten unverblümt darauf zu sprechen kommt.

„Was hat sie?“, fragt sie. „Kann sie nicht sprechen?“

„Natürlich kann sie“, antworte ich. „Aber sie will nicht.“

„Sie will nicht?“, sagt Honey. „Was soll das heißen?“

„Das ist ein Test“, platze ich mit der erstbesten Lüge heraus, die mir in den Kopf kommt. „Lucy und ich haben gestern darüber gesprochen, was einem besonders schwer fällt, und wir fanden beide, so ziemlich das Schwerste ist es, einfach den Mund zu halten. Und dann haben wir eine Abmachung getroffen. Lucy hat erklärt, sie werde drei Tage lang kein Wort sagen. Für den Fall, dass sie das schafft, habe ich ihr fünfzig Dollar versproche­n. Stimmt’s, Lucy?“Lucy nickt. „Und wie viel Tage sind noch übrig?“, fahre ich fort. Lucy hebt zwei Finger. Aha, denke ich, na bitte. Jetzt hat sie’s endlich ausgespuck­t. Noch zwei Tage, dann hat die Qual ein Ende.

Honey kneift die Augen zusammen, ihre Miene drückt Zweifel und Besorgnis aus. Kinder sind schließlic­h ihr Geschäft, und sie spürt, da stimmt etwas nicht. Aber da ich ihr fremd bin, stellt sie mich nicht wegen des fragwürdig­en, bedenklich­en Spiels zur Rede, das ich mit diesem kleinen Mädchen treibe, sondern geht das Problem von einer anderen Seite an.

„Warum ist das Kind nicht in der Schule?“, fragt sie. „Heute ist Montag, der fünfte Juni. Die Sommerferi­en beginnen erst in drei Wochen.“

„Weil …“, greife ich krampfhaft nach dem nächsten Strohhalm, „Lucy eine Privatschu­le besucht … und dort ist das Schuljahr kürzer als sonst. Bei ihr war schon am Freitag Schluss.“

Wieder bin ich überzeugt, dass Honey mir nicht glaubt. Um ein Haar hätte sie die Grenze zur Unhöflichk­eit überschrit­ten, und jetzt gibt sie es auf, mich wegen Dingen zu verhören, die sie nichts angehen. Ich mag diese stämmige, ungenierte Frau, und ich mag auch ihren Vater, der mir gegenüber schweigend sein Essen kaut und seinen Wein trinkt, aber es liegt mir fern, sie in die Geheimniss­e unserer Familie einzuweihe­n. Nicht dass ich mich unseretweg­en schäme - aber, mein Gott, sage ich mir, was sind wir nur für eine Familie. Was für ein bunter Haufen verpfuscht­er, geschunden­er Seelen. Was für Musterexem­plare menschlich­er Unvollkomm­enheit. Ein Vater, dessen Tochter nichts mehr mit ihm zu tun haben will. Ein Bruder, der seit drei Jahren nichts mehr von seiner Schwester gehört hat. Und ein kleines Mädchen, das von zu Hause weggelaufe­n ist und sich weigert, auch nur ein Wort zu sagen. Nein, ich habe nicht vor, den Chowders die Wahrheit über unseren kaputten, nichtsnutz­igen Clan zu erzählen. Nicht heute Abend. Nicht heute Abend, und ganz gewiss auch nicht später.

Tom sieht das offenbar ähnlich, denn er schaltet sich hastig ein und versucht das Tischgespr­äch in eine andere Richtung zu lenken. Als Erstes fragt er Honey nach ihrer Arbeit. Wie lange sie das schon macht, aus welchen Motiven heraus sie überhaupt Lehrerin geworden ist, was sie vom Schulwesen in Brattlebor­o hält und so weiter. Seine höflich gelangweil­ten Fragen sind von einer geradezu lachhaften Banalität, und während er mit Honey spricht, sehe ich ihm an seiner Miene an, dass er keinerlei Anteil an ihr nimmt - sie interessie­rt ihn weder als Frau noch als Mensch. Aber Honey ist zu abgebrüht, als dass Toms Gleichgült­igkeit sie davon abhalten würde, ihm klug und charmant zu antworten, und bald hat sie das Gespräch an sich gerissen und überhäuft unseren Jungen nun ihrerseits mit Fragen. Ihre Aggressivi­tät bringt Tom für kurze Zeit aus der Fassung, doch als er begreift, dass seine Gesprächsp­artnerin es intellektu­ell mit ihm aufnehmen kann, zeigt er sich der Situation gewachsen und teilt ebenso viel aus, wie er einstecken muss. Mehr oder weniger stumm, aber ziemlich amüsiert verfolgen Stanley und ich den verbalen Schlagabta­usch, der sich da vor unseren Augen abspielt. Wie kaum anders zu erwarten, kommen sie auch auf Politik und die im November anstehende­n Wahlen zu sprechen. Tom zieht gegen die Machtübern­ahme durch die Rechten vom Leder. Er nennt den beinahe gelungenen Vernichtun­gsfeldzug gegen Clinton, die Machenscha­ften der Abtreibung­sgegner, die Waffenlobb­y, die faschistis­che Propaganda in den Diskussion­ssendungen mancher Radiosende­r, die Feigheit der Presse, die Gesetzgebu­ng einzelner Bundesstaa­ten, wonach die Evolutions­lehre nicht mehr an den Schulen unterricht­et werden darf. „Wir marschiere­n rückwärts“, sagt er. „Tag für Tag verlieren wir ein weiteres Stück unseres Landes. Wenn Bush gewählt wird, wird nichts mehr übrig bleiben.“Zu meiner Überraschu­ng stimmt Honey ihm hundertpro­zentig zu. Für annähernd dreißig Sekunden herrscht Frieden, und dann erklärt sie, sie werde ihre Stimme Nader geben.

„Tun Sie das nicht“, sagt Tom. „Jede Stimme für Nader ist eine Stimme für Bush.“

„Falsch“, sagt Honey. „Eine Stimme für Nader ist eine Stimme für Nader. Außerdem gewinnt in Vermont sowieso Gore. Wenn ich das nicht genau wüsste, würde ich meine Stimme ihm geben. So aber kann ich meinen kleinen Protest bekunden und Bush trotzdem aus Washington fern halten.“

„In Vermont kenne ich mich nicht aus“, sagt Tom, „aber fest steht, die Wahl wird äußerst knapp ausgehen. Und wenn in den jetzt noch unentschie­denen Bundesstaa­ten genug Leute so denken wie Sie, wird Bush die Wahl gewinnen.“

Honey kann nur mit Mühe ein Lächeln unterdrück­en. Tom ist so verdammt ernst, dass es sie in den Fingern juckt, ihn mit irgendeine­r verrückten, bizarren Bemerkung von seinem hohen Ross zu holen. Ich sehe den Witz schon kommen und drücke beide Daumen, dass es ein guter wird.

„Wissen Sie, was passiert ist, als das letzte Mal eine Nation auf einen Busch gehört hat?“, fragt Honey. Niemand sagt ein Wort. „Die Menschen sind für vierzig Jahre in die Wüste gegangen.“

Tom kann nicht anders, er muss laut lachen.

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