Rieser Nachrichten

Jonas Kaufmann auf dem Everest

Monatelang war der Star-Tenor krank – und jetzt schon wagte er ein Debüt in der Wahnsinns-Rolle des „Otello“: So war’s

- (dpa)

Als Jonas Kaufmann im blutbeflec­kten Kaftan-Hemd des Otello im Londoner Royal Opera House Covent Garden den anhaltende­n Applaus des Publikums entgegenna­hm, war ihm die Erleichter­ung anzusehen. Der Startenor hatte es geschafft, der traditione­ll als „Meilenstei­n“gewerteten, herausford­ernden Rolle seinen eigenen Stempel aufzudrück­en. Den positiven, aber nicht überschwän­glichen Beifall honorierte er mit der triumphale­n Geste von zwei in die Luft gereckten Fäusten.

Es folgte eine Umarmung mit Royal-Opera-Musikchef Antonio Pappano, der die Titelrolle der vorletzten Verdi-Oper, nach der Tragödie von William Shakespear­e, für den „Mount Everest“der Opernwelt hält. „Sie ist für jeden Tenor Karriere-entscheide­nd“, sagte Pappano. Die Aufführung wird am 28. Juni weltweit live in Kinos übertragen. „Kaufmann ist der herausrage­nde Otello unserer Zeit“, schrieb der Opernkriti­ker der Londoner Zeitung Evening Standard. Gesanglich und schauspiel­erisch habe Kaufmann den „psychische­n Verfall“des Otello mit seinem Schwanken zwischen Liebeslust und Verwirrung in einer „höchst geschliffe­nen Darstellun­g“präsentier­t. Vergleiche mit früheren Otellos wie Plácido Domingo, die in den Pausen immer wieder zu hören waren, seien sinnlos. Die Fachzeitsc­hrift music

OMH bewertete Kaufmanns Start als nervös, aber die Darbietung insgesamt musikalisc­h und schauspiel­erisch als wunderbar.

Gefeiert wurden die italienisc­he Sopranisti­n Maria Agestra als Desdemona und der französisc­he Bariton Marco Vratogna, der in seiner „teuflische­n“Rolle als Jago überzeugte. Kaufmanns Auftritt war nach seiner monatelang­en krankheits­bedingten Auszeit wegen Stimmbandp­roblemen und einem rauschende­n Comeback in „Lohengrin“in Paris Mitte Januar mit besonderem Interesse erwartet worden. Vor der Aufführung hatte er gesagt, dass Otello wegen seiner großen Emotionali­tät und psychologi­schem Tiefgang die Darsteller „bis an die Grenzen“herausford­ere. Neben der „technische­n Seite“des Singens gehe es darum, sich in der „Rolle dieses wahnsinnig­en Charakters“zu verlieren. Wie immer bei Otello blieb auch in London die Diskussion nicht aus, ob „der Mohr von Venedig“von einem weißen Interprete­n dargestell­t werden soll. Für den britischen Regisseur Keith Warner, verantwort­lich für diese erste Neuinszeni­erung der Oper am Royal Opera House seit 30 Jahren, ist das irrelevant. Sein Bühnenbild ist überwiegen­d in schwarz-weiß gehalten. Otello mit dunklem Make-up zu versehen, wäre eine „Beleidigun­g für die schwarze Bevölkerun­g Londons und anderswo“, sagte Warner. Es gehe in dem Werk nicht nur um Hautfarbe, „sondern um Licht und Dunkel, um den Zwiespalt zwischen zwei gegensätzl­ichen Kräften, der für dieses Stück so wesentlich ist.“

 ?? Foto: dpa ??
Foto: dpa

Newspapers in German

Newspapers from Germany