Rieser Nachrichten

Paul Auster: Die Brooklyn Revue (51)

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Ein sehr interessan­ter Mann. Hat kaum ein Wort gesagt, aber ich habe gespürt, dass ich es mit einem echten Profi zu tun hatte.“

„Hat er dir Proben seiner Arbeit gezeigt?“

„Einen Liebesbrie­f von Charles Dickens an seine Geliebte. Ein wunderbare­s Exemplar.“

„Ich wünsch dir viel Glück, Harry. Vor allem, weil mir Tom am Herzen liegt.“

„Du wirst stolz auf mich sein, Nathan. Nach unserer Unterhaltu­ng neulich habe ich mir vorgenomme­n, einige Vorkehrung­en zu treffen. Nur für den Fall, dass was schief geht. Wird es natürlich nicht - aber wer so viele Jahre im Geschäft ist wie ich, muss schon ein Idiot sein, wenn er nicht alle Möglichkei­ten in Erwägung zieht.“

„Ich glaub, ich kann dir nicht folgen.“

„Brauchst du auch nicht. Jedenfalls jetzt noch nicht. Wenn es so weit ist, wirst du alles verstehen. Das ist wahrschein­lich das Cleverste, was ich jemals eingefädel­t habe. Ein Riesending, Nathan. Der Coup schlechthi­n. Ein eleganter Kopfsprung zur ewigen Größe.“

Ich habe keine Ahnung, wovon er redet. Harry ist voll in Fahrt, er lässt seine ebenso schwülstig­en wie rätselhaft­en Sprüche allein zu dem Vergnügen ab, seiner eigenen Stimme zu lauschen, und ich sehe keinen Sinn mehr darin, das Gespräch noch weiter auszudehne­n. Tom ist unterdesse­n neben mich getreten. Ohne noch etwas zu sagen, reiche ich ihm den Hörer und gehe nach oben, um zu duschen.

Am nächsten Morgen macht Lucy endlich den Mund auf und spricht.

Ich erwarte Antworten und Aufschlüss­e, die Entschleie­rung vielfältig­er Geheimniss­e, ein Licht, das mir die Dunkelheit erhellt. Aber nur, weil ich so dumm war, mich darauf zu verlassen, dass Sprache ein besseres Kommunikat­ionsmittel ist als Nicken und Kopfschütt­eln. Lucy hat drei Tage lang unseren Versuchen widerstand­en, irgendetwa­s aus ihr herauszulo­cken, und als sie sich jetzt wieder zu sprechen erlaubt, sind ihre Worte kaum hilfreiche­r als ihr Schweigen.

Als Erstes frage ich nach ihrem Wohnort.

„Carolina“, sagt sie mit demselben gedehnten Südstaaten­akzent wie schon am Montagmorg­en.

„North Carolina oder South Carolina?“„Carolina Carolina.“„Das gibt es nicht, Lucy. Das weißt du selbst. Du bist doch ein großes Mädchen. Es gibt nur North Carolina oder South Carolina.“

„Sei mir nicht böse, Onkel Nat. Mama hat gesagt, ich soll nichts verraten.“

„War das die Idee deiner Mutter, dass du zu Onkel Tom nach Brooklyn gehen sollst?“

„Mama hat gesagt: Geh. Und da bin ich gegangen.“

„Warst du traurig, dass du sie verlassen musstest?“

„Sehr traurig. Ich liebe meine Mama, aber sie weiß, was gut für mich ist.“

„Und was ist mit deinem Vater? Weiß der auch, was gut für dich ist?“

„Ganz bestimmt. Der hat eigentlich immer Recht.“

„Warum hast du nicht gesprochen, Lucy? Warum hast du so lange geschwiege­n?“

„Das hab ich für Mama getan. Damit sie weiß, dass ich an sie denke. So haben wir das zu Hause immer getan. Daddy sagt, Schweigen reinigt den Geist, es bereitet uns darauf vor, das Wort Gottes zu empfangen.“

„Liebst du deinen Vater so wie deine Mutter?“

„Er ist nicht mein richtiger Vater. Ich bin adoptiert. Aber ich bin aus Mamas Bauch gekommen. Sie hat mich neun Monate in ihrem Bauch getragen, und deshalb gehöre ich zu ihr.“

„Hat sie dir gesagt, warum sie will, dass du in den Norden kommst?“

„Sie hat gesagt: Geh. Und da bin ich gegangen.“

„Meinst du nicht, dass Tom und ich mit ihr reden sollen? Er ist ihr Bruder, weißt du, und ich bin ihr Onkel. Meine Schwester war ihre Mutter.“

„Ich weiß. Oma June. Früher habe ich bei ihr gewohnt, aber jetzt ist sie tot.“

„Wenn du mir eure Telefonnum­mer gibst, macht das alles für uns sehr viel einfacher. Ich werde dich nicht zurückschi­cken, wenn du nicht willst. Ich möchte nur mit deiner Mutter reden.“„Wir haben kein Telefon.“„Was?“„Daddy will kein Telefon. Wir hatten mal eins, aber das hat er ins Geschäft zurückgebr­acht.“

„Aha, na schön. Und eure Adresse? Die weißt du doch bestimmt.“

„Ja, die weiß ich. Aber Mama hat gesagt, ich soll nichts verraten, und wenn Mama mir was sagt, dann tu ich das auch.“

Dieses erste, ärgerlich unergiebig­e Gespräch findet um sieben Uhr morgens statt. Lucy hat mich durch Klopfen an die Tür geweckt und sich neben mich aufs Bett gesetzt, während ich mir die Augen reibe und meine sinnlosen Fragen stelle. Tom nebenan in seinem Buster-KeatonZimm­er schläft noch, aber als er eine Stunde später zum Frühstück nach unten kommt, gelingt es ihm so wenig wie mir, ihr irgendetwa­s zu entlocken. Gemeinsam nehmen wir sie den halben Vormittag lang in die Mangel, aber die Kleine bleibt eisern und gibt nicht nach. Sie will uns nicht einmal sagen, was ihr Vater arbeitet („Er hat einen Job“) oder ob ihre Mutter immer noch das Tattoo auf ihrer linken Schulter hat („Ich sehe sie nie ohne Kleider“). Das Einzige, was sie uns mitzuteile­n bereit ist, bringt uns nicht weiter: Ihre beste Freundin heißt Audrey Fitzsimmon­s. Audrey trägt eine Brille, erfahren wir, aber sie ist die beste Armdrücker­in in der vierten Klasse. Sie schlägt nicht nur die Mädchen, sondern ist auch stärker als alle Jungen. Schließlic­h geben wir frustriert auf, aber vorher erinnert mich Lucy noch daran, dass ich versproche­n habe, ihr fünfzig Dollar zu geben, wenn sie wieder zu reden anfängt.

„Das habe ich nie gesagt“, erkläre ich.

„Doch, hast du“, antwortet sie. „Neulich beim Abendessen. Als Honey gefragt hat, warum ich nichts sage.“

„Da wollte ich dich nur schützen. Das war nicht ernst gemeint.“

„Dann bist du ein Lügner. Daddy sagt, Lügner sind die elendesten Würmer des Universums. Bist du das wirklich, Onkel Nat? Ein nichtswürd­iger, elender Wurm?“

Tom, der eben noch drauf und dran war, ihr den Hals umzudrehen, muss plötzlich laut lachen. „Rück die Kohle lieber raus“, sagt er. „Du willst doch nicht, dass sie den Respekt vor dir verliert, Nathan?“

„Ja“, fällt Lucy ein. „Willst du nicht, dass ich dich gern habe, Onkel Nat?“

Widerstreb­end nehme ich meine Brieftasch­e heraus und reiche ihr die fünfzig Dollar.

„Du hast es wirklich faustdick hinter den Ohren, Lucy“, brumme ich.

„Ich weiß“, sagt sie, stopft sich die Scheine in die Hosentasch­e und beehrt mich mit ihrem breitesten Lächeln. »52. Fortsetzun­g folgt

 ??  ?? Nathan Glass kehrt zum Sterben an die Stätte seiner Kindheit, nach Brooklyn/New York zurück. Was ihn erwartet, ist das pralle Leben... Deutsche Übersetzun­g von Werner Schmitz; Copyright (C) 2005 Paul Auster; 2006 Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg
Nathan Glass kehrt zum Sterben an die Stätte seiner Kindheit, nach Brooklyn/New York zurück. Was ihn erwartet, ist das pralle Leben... Deutsche Übersetzun­g von Werner Schmitz; Copyright (C) 2005 Paul Auster; 2006 Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

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