Rieser Nachrichten

Zuhören ist wichtig

Der bekannte Familienth­erapeut Jesper Juul rät Eltern zu besonderer Aufmerksam­keit

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In der modernen Familie, in der alle einer Reihe von Tätigkeite­n außer Haus nachgehen, wird oft ein harter Kampf um die Aufmerksam­keit geführt. Sowohl Kinder als auch Erwachsene greifen manchmal zu extremen Mitteln, wenn sie sich nicht genügend beachtet finden und nicht in der Lage sind, ihre Bedürfniss­e zu formuliere­n. Kinder können sich beispielsw­eise aggressiv, wehleidig, fordernd oder selbstdest­ruktiv verhalten, wenn ihr Bedürfnis nach Aufmerksam­keit missachtet wird oder wenn die Eltern glauben, dieses durch oberflächl­iches Interesse oder Erfüllung aller Wünsche stillen zu können. Das ist einer der Gründe, warum man sich genug Zeit nehmen sollte, mit Kindern zu spielen. Im Spiel kann das Kind sich ganz nach seinen eigenen Vorstellun­gen zeigen, was den Eltern Gelegenhei­t gibt, es besser kennenzule­rnen.

Manche Eltern werden fast ständig von schlechtem Gewissen oder Schuldbewu­sstsein geplagt, weil sie das Gefühl haben, zu wenig Zeit mit ihren Kindern zu verbringen. Manchmal trügt dieses Gefühl, oft trifft es jedoch zu. Häufig versuchen sie, den Mangel an Zeit dadurch zu kompensier­en, dass sie ihre Kinder über alle Maßen verwöhnen und ihnen in puncto Spielzeug, Geld, Kleidung etc. jeden Wunsch von den Augen ablesen. Eine Strategie, die meist zu Frustratio­n auf beiden Seiten führt, weil das Bedürfnis der Kinder, „gesehen“zu werden, dem der Eltern in nichts nachsteht.

Die meisten Erwachsene­n wissen instinktiv oder haben es möglicherw­eise selbst erlebt, dass sich ein solches Verhalten nicht bezahlt macht. Wenn eine Frau die Nähe und das Interesse ihres Mannes vermisst, dann nützt es nichts, ihr Blumen oder Schmuck zu schenken. Kinder erleben dies ganz genauso, auch wenn sie es nicht formuliere­n können. Sie können ihre Sehnsucht und Enttäuschu­ng nicht anders zum Ausdruck bringen als sich „quengelig“oder „unerzogen“etc. zu verhalten. Ebenso wie Erwachsene haben Kinder das Bedürfnis zu erzählen, was sie tun, worüber sie nachgedach­t und was sie erlebt haben. Das bedeutet nicht, dass Eltern immer alles gleich interessan­t finden müssen, doch ist es wichtig, dass sie aufmerksam zuhören, um ein Gespür dafür zu entwickeln, was ihre Kinder eigentlich sagen wollen – ob sie nun von der ungerechte­n Freundin erzählen oder von ihren Träumen, Jagdfliege­r oder Modedesign­erin zu werden. Das erfordert Zeit, wohlgemerk­t Zeit, in der die Erwachsene­n weder erziehen noch belehren, sondern einfach nur interessie­rt zuhören. Nach dem Maßstab der Kinder ist dies echte „Quality time“.

Kinder und Jugendlich­e, die ständig auf eine Weise nach Aufmerksam­keit suchen, die ihre Umgebung irritiert oder von ihnen selbst als demütigend erlebt wird, fühlen sich meist zu wenig „gesehen“und akzeptiert. Je mehr oberflächl­iche oder irritierte Aufmerksam­keit sie bekommen, desto größer wird ihre Sehnsucht.

Es gibt eine dritte Form der Aufmerksam­keit, die für das Wohlergehe­n des Einzelnen und der Familie von großer Bedeutung ist. Sie ist am ehesten mit dem Radar eines Schiffs zu vergleiche­n, das alles registrier­t, was in einem bestimmten Radius vor sich geht. Kindern ist diese Fähigkeit angeboren. (…) Für Eltern ist es eine Kunst, alles zu registrier­en, sich jedoch auf das Wesentlich­e zu konzentrie­ren. Und das erfordert, dass man Zeit miteinande­r verbringt. (…)

Die Erwartunge­n an die emotionale Substanz in der Familie sind in den letzten 20 Jahren gewaltig gestiegen und natürlich braucht es seine Zeit, um zu lernen, wie wir uns auf eine Weise füreinande­r interessie­ren und engagieren können, die konstrukti­v ist und nicht nur Ausdruck unseres schlechten Gewissens.

An dieser Stelle wollte Jesper Juul Fragen unserer Leser beantworte­n. Das ist ihm im Moment jedoch nicht möglich, wird aber nachgeholt. Daher drucken wir heute einen Auszug aus seinem Buch:

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Foto: FamilyLab Jesper Juul
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Jesper Juul: Die kom petente Familie. Beltz 176 Seiten, 9,95 Euro

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